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Vergleichen.

Eremo Sacro Speco

Heute ist der 2. Juni, Festa della Repubblica, der Nationalfeiertag in Italien, der an die Gründung der italienischen Republik 1946 erinnert. Es fällt mir merklich schwer mich von meinem gemütlichen Zimmer im La Casa Di Helena zu trennen. Im Vergleich zu meinen anderen Unterkünften ist dies eine wahrliche Perle. Aber ich will ja eigentlich gar nicht vergleichen, sondern einfach nur dankbar sein, dass ich an diesem wundervollen Ort untergekommen bin. Nachts, wenn ich mit meinen Träumen alleine bin, spielt es ja keine Rolle wo ich übernachte, ob in einer Herberge, draußen in der Natur oder eben in diesem mittelalterlichen Zimmer. Was ich brauche ist erholsamer Schlaf und den hatte ich in diesem Zimmer auf jeden Fall.

La Casa di Helena – Stroncone

Ich packe und verlasse still, heimlich und leise die Unterkunft. Obwohl es bereits kurz vor acht Uhr ist, nehme ich noch niemanden in der Unterkunft wahr. Bezahlt hatte ich bereits gestern Abend, so brauche ich nur noch lautlos zu verschwinden. In der Bar nehme ich noch einen Cappuccino und ein Croissant zu mir. Die Auswahl an Croissants ist hier ganz beträchtlich, mit Honig, mit Schoko, mit irgendwas herzhaftem, mit und ohne Krokantsplitter, so dass ich mich für ein ganz normales entscheide.

Im Pilgerführer lese ich, dass die heutige Etappe eine der anstrengendsten auf dem ganzen Pilgerweg sei. Bis Calvi werde ich 22 km mit 1.000 Höhenmeter überwinden. Und das bei Temperaturen von über 32 Grad. Eigentlich kann mich auf diesem Weg kaum noch eine Etappe weder erschrecken noch überraschen, denn sie waren mal leichter und mal anstrengender. Meine Jammerei habe ich nahezu eingestellt und ich lasse mich einfach ein auf das was kommt. Was nützen mir die Vergleiche, wenn ich so oder so über die Berge laufen muss, wenn ich weiter nach Rom will.

Im allgemeinen sind Vergleiche ja häufig die Wurzel eines Übels: „Ich hätte gerne, dass unser Garten genauso schön ist wie der unseres Nachbarn.“ „Ich hätte gerne auch so einen schnellen Wagen wie mein Kollege.“ usw. Und wenn ich das nicht bekomme, was der andere hat, fühle ich mich miserabel oder es kommt zum Konflikt. Kennst solche Situationen und kommt Dir das bekannt vor? Unter Pilgern gibt es wenig Vergleiche. Jeder trägt an jedem zweiten oder dritten Tag die selben Klamotten wie zuvor und wird auf dem Weg keinen Shopping Tag einlegen. Unter Pilgern besteht zwar Interesse wieviel Last jeder in seinem Rucksack mitschleppt. Aber es gibt dafür weder Bewunderung noch Mitleid. Es beschränkt sich beim Gewicht auf die Fakten, auf eine Angabe in Kilogramm und damit hat es sich. Wahres Interesse besteht eher an den menschlichen Themen, die jeder mit sich rumschleppt und das Teilen des eigenen Leids.

Pilger verfolgen auch alle das selbe Ziel. Jeder will irgendwann, irgendwo ankommen, Frieden und Heilung finden. Ohne Belohnung, ohne Bonus. Einfach nur ankommen. Ich denke, das ist im Alltag anders. Wo wird in Unternehmen von jedem das selbe Ziel verfolgt? Eher messen sich Abteilungen miteinander oder Kollegen untereinander als würden sie miteinander konkurrieren. Wer macht die besseren Deals, wer die gigantischeren Umsätze. Gerät dadurch das mögliche gemeinsame Ziel, nämlich einen zufriedenen Endkunden zu haben, durch individuellere Ziele mit persönlicher Motivation nicht ins Hintertreffen? Wenn die Zusammenarbeit im Alltag so wäre wie beim Pilgern, könnte es weniger Stress und mehr Zufriedenheit geben. Den Gedanken lasse ich jetzt erstmal sacken und schaue, ob ich irgendwann noch mal ein bisschen mehr Substanz dranbekomme.

Ich pilgere zuerst zum Kloster San Francesco, das von Franz im Jahr 1213 selbst gegründet wurde. Damals war er ca. 32 Jahre alt. In der Klosterkirche ist gerade Gottesdienst und ich pilgere weiter. Stroncone verlasse ich über Straßen mit unterschiedlichem Belag. Es geht mal auf, mal ab und ich komme zügig voran. An einer Steigung überhole ich ein deutsches Pärchen. Ich grüße mit einem fröhlichen „Hallo“, doch nur er grüßt zurück. Die Frau beschäftigt sich vermutlich gerade sehr mit sich selbst, so dass sie mich nicht wahrnimmt. Hinter Aguzzo geht es noch in eine Talsenke und dann wird es wenig erfreulich.

Es ist heiß und ich pilgere den Berg hinauf. In Le Ville zweigt der Weg ab und führt als Trampelpfad über eine Wiese den steilen Hang nach oben. Ich arbeite mich durch das hüfthohe Gras und dorniges Gestrüpp. Dann verläuft der Weg weiter in den Wald, wird schmaler und ausgewaschener. Ich stolpere über die auf dem Weg liegenden Steine bis ich die Straße zum und letztlich das Santuario Sacro Speco selbst erreiche.

Für den Aufstieg werde ich mit einem sensationellen Blick über die weite Ebene belohnt. Ich besichtige die Einsiedelei, die Franz ab 1213 für Gebet und Mediation nutzte. Für die Einkehr in Stille gibt es kaum einen besinnlicheren Ort. Hier vollbrachte der Franz auch ein Wunder, denn er schöpfte Wasser aus dem Brunnen und es wurde zu Wein. So sagt man zumindest. Ob er erst darin seine Füße wusch und es so eine vergleichbare berauschende Wirkung wie Wein entfaltete oder ob es einfach nur trinkbar wurde, das weiß ich leider nicht. Ich nutzte den Ort zu einer Pause und zog erstmal mal völlig durchnässtes T-Shirt aus. Als ein Padre vorbeikam und mich bat meinen nackten Oberkörper zu bedecken pilgerte ich weiter.

Die ersten 600 Höhenmeter hatte ich bereits bewältigt und es warten noch 400 weitere auf mich. Die haben es tatsächlich in sich. Es ging im Bereich einer Stromtrasse in Serpentinen über Geröll stetig aufwärts. Ich passe mein Tempo an und steige in langsam, Schritt für Schritt auf. Je höher ich steige, desto schwerer wird mein Rucksack und jeder Schritt. Jede Menge Insekten schwirren um mich herum. Das nervt fast noch am meisten. Fast meditativ und mit großer Achtsamkeit steige ich weiter über das Geröll hinauf und erreiche bald eine Wiese, die mir signalisiert, dass ich die größte Anstrengung nun hinter mir habe. Auf einem Feldweg geht es bequem weiter. Zwar noch mit einem leichten Anstieg, der jedoch aufgrund der Beschaffenheit des Weges leichter zu bewältigen ist, als diese steinige, steile Serpentinenstrecke zuvor.

Von nun an geht es bergab nach Calvi dell’Umbria, der südlichsten Gemeinde Umbriens mit knapp 2.000 Einwohnern. Ich erreiche eine asphaltierte Straße die ich bequem bergab pilgern kann. Gelegentlich kürze ich über den markierten Wanderweg auf weichem Waldboden ab. Gegen 14 Uhr erreiche ich Calvi, erfrische und wasche ich mich am Brunnen vor dem Eingang des Friedhofs. Dann entspanne ich mich auf der ersten Parkbank die ich finden kann. Ich esse meinen Apfel und bediene mich auch an den Butterkeksen, die ich als eiserne Reserve seit Florenz durch die Gegend schleppe. Gerade als ich aus meinem Mittagsschlaf erwache, pilgern drei Italienerinnen an mir vorbei.

Barszene in Calvi

Ich pilgere ein wenig später ins alte Zentrum von Calvi und lasse mich in der erstbesten Bar nieder, um ein großes Radler zu trinken. Am Nebentisch spielen vier ältere Männer unter hoher Konzentration Karten. Nach jeder Partie wird lautstark darüber debattiert was, wer hätte anders spielen sollen. Acht Männer schauen dem Spiel zu. Es ist ein fröhliches Feiertagstreiben. Ansonsten geht es aktuell in Calvi recht ruhig zu. Was mir am heutigen Tag besonders auffällt ist, dass ich weder Rasentrimmer noch vergleichbare Gartengeräte höre.

Irgendwie verspüre ich keinen Impuls hier in Calvi zu bleiben und beschließe noch weiterpilgern. Irgendwie verspüre ich auch eine gewisse Ungeduld und möchte gerne bald in Rom ankommen. Ich versuche mich einzufühlen und zu ergründen, was es ist, dass mich so nichts hier in Calvi hält. Vielleicht doch ein unbewusster Vergleich mit Stroncone, das irgendwie sympathischer und freundlicher war? Fehlt mir die Gemeinschaft der Pilger? Um 17 Uhr breche ich auf. Die Wegeführung ist mir unklar und ich orientiere mich an der kleinen Karte im Reiseführer.

Zunächst geht es 500 Stufen über die Via Roma, welche Straße auch sonst, talabwärts aus Calvi heraus. Dann ein Stück an einer Provinzstraße entlang. Ich bin genervt, denn ständig muss ich den Autos ausweichen. Nach 2 km zweigt eine Nebenstraße ab und ich werde als Pilger auf einem Schild im Sabinerland willkommen geheißen. Und ich sehe wieder die gelb-blaue Markierung. Ich spüre deutlich wie sich meine Stimmung aufhellt. Es besteht Klarheit bezüglich des Weges, ich pilgere auf einem sanft abfallenden Bergrücken und blicke auf eine liebliche, hügelige Landschaft mit Weinbergen, Olivenhainen und Kuhherden. Ich fühle mich wohl und bin zufrieden.

An einer Stelle ist die Wegeführung unklar. Es gibt keine Markierung, es gibt ein Weg, einen verbotenen Weg durch ein offenes Gatter und einen anderen Weg. Der Reiseführer macht eine klare Ansage bzgl des verbotenen Weges. Nämlich: genau da lang um „sanft den Talboden zu erreichen“. Mit Widerwillen pilgerte ich den verbotenen Pfad und wartete bloß darauf, dass im nächsten Augenblick entweder der Eigentümer mit einer Schrotflinte vor mir stehen wird oder eine Horde Hunde über mich herfällt.

Als ich das zweite Gatter passiere, die blau-gelbe Markierung wiederentdecke und keines der befürchteten Ereignisse eintritt, bin ich wieder beruhigt. Ich pilgere im Talboden weiter bis ein Wegweiser in Richtung Gestrüpp weist. Ich beiße die Zähne zusammen, laufe durch hüfthohes Gewächs in Serpentinen den Hang der anderen Talseite hinauf. Der Weg war dabei so steil, dass ich den Eindruck hatte ich würde mit meinen Wanderstiefeln eine schwarze Skipiste hochstiegen.

Kurz bevor ich wieder auf Spuren der Zivilisation stoße komme ich noch in Kontakt mit einer Brennnessel an der rechten hinteren Wade. Es fühlt sich so an, als sei die oberste Hautschicht mit einem Messer eingeschnitten und mit Salzwasser beträufelt worden.

Ich laufe über Dorf- und Landstraßen weiter nach Collevecchio, wo ich direkt am Ortseingang einen geeigneten Platz für mein Nachtlager entdecke. Ich freue mich, dass meine Hängematte wieder zum Einsatz kommt und hoffe, dass ich in der Nacht von wilden Tieren in Ruhe gelassen werde. In meiner Hängematte liegend, erfreue ich mich an dem Leuchtspiel der Glühwürmchen. Fantastisch. Es sind so viele.

Pace e Bene.

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