Ich schlafe zügig ein und wache bereits nach einer Stunde wieder auf. Ich höre in unmittelbarer Nähe ein leises Quieken, Grunzen und Rascheln. Es klingt als wollten ein paar Wildschweine im Bach ihren Durst stillen. Ich spüre wie mein Herz kräftiger und schneller als sonst schlägt. Ich stelle mir gerade vor wie sich die kleine Rotte unter meiner Hängematte häuslich einrichtet und meinen Rucksack nach Nahrung durchstöbert. Genau das mag ich verhindern. Ich huste, klatsche laut in die Hände, versuche mich irgendwie bemerkbar zu machen. Daraufhin werden die Geräusche leiser und ich schlafe wieder ein.
Noch lange vor meinem Wecker wache ich um 6h30 auf. Es ist frisch und ich kann mich noch nicht so recht aufraffen die Geborgenheit meiner gemütlichen Hängematte zu verlassen. Wenige Zeit später klettere ich aus meinem Nest, packe zusammen und laufe los. Der gut markierte Weg wird von Mountainbikern und Nordic Walkern zum sonntäglichen Frühsport frequentiert.
Eigentlich wollte ich nach Wegebeschreibung meines Rother Reiseführers nach Rom pilgern. Dessen Route versprach im Prinzip steigungsfrei nach Rom einzufallen und nur offizielle anstelle von Privatstraßen zu nutzen. Allerdings habe ich mich wieder von der vertrauten gelb-blauen Markierung verleiten lassen. Dadurch lief ich anstelle nach Mentana nach Monterotondo, dass ich bereits nach 90 Minuten erreiche. Jetzt bin ich bereits im Bezirk Rom.
Das Stadtbild begrüßt mich mit den ersten sechsstöckigen Mehrfamilienhäuser und macht einen weniger gepflegten Eindruck im Vergleich zu dem was ich bislang sah. Die Menschen grüßen mich als Pilger nur noch sporadisch. Nur der Cappuccino in der Bar kostet mit €1,20 noch ebenso so viel wie auf dem Land. Es ist Pfingstsonntag, das Fest des heiligen Geistes. Vielleicht hat der seine Finger im Spiel und treibt mich weiter.
Ich verlasse Monterotondo über die Viale Fausto Cecconi und gelange erst steil bergab laufend in einen Taleinschnitt. Folglich geht es auf der anderen Seite ebenso steil direkt wieder hoch. Dann geht es wieder in ein Tal und wieder auf einen Berg und wie nicht anders zu erwarten wieder in ein Tal. Mein Reiseführer kündigt die bevorstehenden Probleme des Weges bereits an: „Das Sträßchen biegt rechts ab und endet dann. Sie aber gehen in dieser Rechtskurve des Sträßchens ohne Richtungswechsel links an den Feldrand, daran entlang zu einem Querweg (Feldweg) und dort rechts, die letzten Meter auf Teer bis zu einem Sträßchen.„
ich folge den Anweisungen und gelange zum Feldrand, Weg wird auch von dem Wegweiser angezeigt. Ich laufe über das Feld und die vertrauten gelb-blauen Hinweise bleibt von nun an aus. Allerdings sehe ich auch nur noch einen Weg und der führt an einem Betriebsgelände vorbei den Berg hinauf. Ganz explizit ist dort angegeben, dass weder Autofahrer noch Fußgänger erwünscht sind. Ich wage es dennoch.
Zwei Hunde laufen bellend auf mich zu. Keine kleinen Hunde. Nein, von der Rückenhöhe könnten sie es locker mit einem kleinen Pony aufnehmen. Das Bellen der Hunde bin ich inzwischen gewohnt, auch wenn es mich jedes Mal aufs neue nervt. Hier steht jedoch das Hoftor offen und die Hunde hatten keinerlei Scheu auf mich loszurennen und mir laut bellend und knurrend klar zu machen, dass ich hier nicht erwünscht bin. Einer der Hunde stellt sich mir direkt in den Weg, bellt sich die Kehle aus dem Hals und schafft es mich so sehr einzuschüchtern, dass ich überlege, ob es nicht vielleicht doch noch einen anderen Weg gibt.
Auf dem Nachbargrundstück sehe ich Leute die gerade ein Gartenfest vorbereiten. Ich rufe ihnen zu und frage nach dem Verlauf der Via Francesco. Sie deuten den Berg hinauf. Auf meinen Einwand bezüglich der Hunde meinen sie, dass wäre kein Problem. Gut. Ich brülle die Hunde mit einem lauten „Aus“ an und blicke ihnen dabei auf die Stirn und nicht in die Augen. Von irgendeiner Hundeflüsterin habe ich gehört, dass würde dem Hund klarmachen, dass ich hier das sagen habe. Das hat funktioniert. Die Hunde hören auf zu bellen, ziehen sich zurück und lassen mich über die Asphaltstraße den Berg hinaufsteigen.
Oben angekommen erblicke ich direkt vor mir in der Ferne die Kuppel des Petersdom. „Yippie“ rief ich unkontrolliert vor lauter Freude. Morgen werde ich dieses Ziel, das Grab meines Namensvetters Petrus erreichen und diese Pilgerreise beenden. Doch vorher sind noch Herausforderungen zu bewältigen. Ich sehe linker Hand ein Eisengatter mit Videoüberwachung und rechter Hand auch. Zusätzlich lese ich auf den Hinweisschildern, dass der Durchgang verboten sei. Glücklicherweise will gerade ein Fahrzeug das Gatter passieren. Ich frage den Fahrer nach dem Weg und erhalte die Antwort, dass ich schon richtig sei. Ich bräuchte nur das Gatter passieren. Nun gut, ohne seinen Erlaubnis hätte ich mich sehr gesträubt, da ich fremdes Eigentum respektiere . Außerdem befürchte ich, dass hinter jedem Gatter eine Horde voller Hunde nur darauf wartet mich zum Frühstück oder als Zwischenmahlzeit zu verspeisen.
Mit mulmigem Gefühl gehe ich rechts an dem Tor vorbei und folge der Schotterstraße. Immer wieder höre ich Hundegebell, aber sehe erfreulicherweise keinen. Ich passiere Farmhäuser, die mir teilweise verlassen erscheinen. Vielleicht gibt es hier einfach nur Bewegungsmelder und das Hundegebell wird vom Tonband abgespielt? Nein sicherlich nicht, die Zeiten von Tonband und Kassettenrekorder sind ja vergangen und es gibt fast alles nur noch in digitaler Form.
An einem Abzweig bin ich abermals unsicher und folge der Empfehlung des Outdoor Reiseführers hier sanft bergab in südlicher Richtung abzuzweigen. Diesem Weg folge ich durch das Riserva Naturale delle Marcigliana. Ich komme an einem Pilgerwegweiser vorbei, der anzeigt, dass es bis zum Petersdom nur noch 22km seinen. Frohen Mutes mache ich eine Rast und verzehre meine letzten Lebensmittel: einen Rest Pecorino, zwei kleine Würstel und halb vertrocknetes Weißbrot. Für den kleinen Hunger zwischendurch dürfte in Rom wohl an jeder Straßenecke gesorgt sein, also kein Grund alles noch weiter mit mir rumzuschleppen. Ab jetzt ist der Streckenverlauf klar. Die Via di San Giovanni verläuft schnurgerade Richtung Rom und die gelb-blauen Markierungen sind wieder in Fülle vorhanden.
Ich mache in einem Vorort von Rom nochmals eine kleine Rast in einer Pizzeria, denn ich habe es nicht eilig. dAnn komme ich auf die Via della Bufalotta und unterquere die „Circonvallazione Orientale“, Roms äußeren Autobahnring. Fast unmerklich schleicht sich das höhere Verkehrsaufkommen und der Straßenlärm ein. Es kommen Fahrstreifen dazu, es fahren immer mehr Autos. Ich überquere eine mehrspurige Straße und die Autos warten nicht mehr freundlich oder winken mir zu, sondern ich muss sehr achtsam sein, dass ich hier nicht unter die Räder komme. in der Großstadt gelten nun mal andere Gesetze. Den Fokus richte ich nicht mehr auf mich, sondern auf all das was im Außen passiert. Es sind viel zu viele Reize die mein Hirn hier verarbeiten muss. Da verbleibt keine Kapazität mehr für Inspiration, Kreativität oder freie Gedanken.
In Monte Sacro stoße ich auf die Via Nomentana. Meine Kraft hat bereits zunehmend nachgelassen als ich den Stadtteil Monte Sacro erreiche. Hier finde ich einen Park, ein wahres Kleinod, der mich zum Entspannen einlädt. Dieser Einladung folge ich und ruhe mich auf einer Parkbank aus. Ich falle kurz in den Tiefschlaf und fühle mich wieder fit. Ich verlasse den Park und pilgere über die antike Ponte Nomentano über den Fluss Aniene. Mein Weg führt immer weiter die scheinbar endlose Via Nomentana entlang. Es ist warm. Selbst im Schatten kein kühler Luftzug.
Ich erreiche die Porta Pia. Eines der alten Stadttore von Rom. Jetzt habe ich es geschafft. Ich bin von Florenz nach Rom gelaufen! Yippie und Hallelujah!
Yippie! jubele ich abermals. Ich lief die Strecke mit Umwegen aus eigener Kraft und auf eigenen Füßen. Meine Pilgerreise wird morgen enden. Wenn ich daran denke verspüre ich leichte Melancholie und gleichzeitig bin ich froh gestimmt, dass es mir gelang allen meinen Bedürfnissen gerecht zu werden und meinen Hunger zu stillen. Das Kunststück wird darin bestehen, so viel wie möglich davon in der Alltag zu übertragen.
In einem Alimentari versorge ich mich mit einem Bier und einer Zitronenlimonade und lasse mich erstmal ein einem Park nieder. Ich möchte Kräfte tanken für die letzten 4km zur Herberge, wo ich auf einen freien Platz hoffe. Da es in der Stadt nicht vorteilhaft ist mit Stöcken zu laufen, habe ich diese bereits bei der letzten Pause zusammengeklappt und in meinen Rucksack verstaut. Bei den vielen Menschen die hier umherlaufen, würde ich nur einige oder auch mich mit den Dingern ins Stolpern oder schlimmsten Falls zu Fall bringen.
Mein Tempo verlangsamt sich, jeder Schritt, jeder Meter schmerzt. Im Rücken und auch in den Füßen. Scheinbar fehlt die Unterstützung durch die Stöcke. Meine Arme baumeln jetzt auch nur noch so umher ohne wirklich etwas zu meinem Fortkommen beizutragen. Heute will ich eigentlich nur noch zu meiner Herberge. Natürlich könnte ich einfach in den nächsten Bus einsteigen oder eine Metro nehmen. Aber das ist gegen meine Pilger-Ehre. Öffentliche Verkehrsmittel nehme ich erst nachdem ich meine letzte Etappe beim Petersdom beendet habe und meine Pilgerurkunde in den Händen halte. Also es ist meine eigene Wahl mich mit letzten Kräften zum Casa per Ferie Suore Domenicane zu schleppen. Ich habe keine Reservierung bei den Dominikanerinnen, bin jedoch zuversichtlich, dass es dort noch einen Platz für mich gibt. So viele Pilger waren ja nicht mehr auf dem Weg seit Assisi.
Um 19 Uhr 30 erreiche ich das Kloster. Der freundliche Herr an der Porteria überbringt mir die traurige Nachricht, dass wirklich kein einziges Eckchen mehr frei sei. Er versucht es telefonische noch bei einem anderen Kloster, welches nur ein Kilometer entfernt sei, aber auch dort sind alle Betten belegt. Mist! So hatte ich mir das nicht vorgestellt. Aber ich wusste auch nicht, dass die kirchlichen Unterkünfte von jedem Touristen gebucht werden können.
Heute mittag versuchte ich bereits über die deutschsprachige Pilgerunterstützung ein Zimmer zu bekommen, erreichte jedoch nur den Anrufbeantworter. Ich greife auf das Buchungsportal von Booking.Com zurück. Darüber habe ich bereits in Assisi schnell und unkompliziert ein nettes Zimmer bekommen. Bei Best Western werde ich fündig. Es ist nur 1km entfernt und vom Preis noch erträglich. Wobei mir der Preis inzwischen fast egal ist. Ich will einfach ein Zimmer, eine Dusche und frische Kleidung! Für diesen Kilometer benötige ich eine gefühlte Ewigkeit. Doch ich komme an! Die argwöhnischen Blicke der Empfangsdame mag ich nicht beschreiben. Ich glaube, dass kann sich jeder vorstellen wie jemand guckt, wenn er in einem 4 Sterne Hotel einen Pilger mit Rucksack, staubigen Stiefeln, leidendem Gesichtsausdruck und verschwitztem T-Shirt begegnet. Von meinem Körpergeruch wird sie aufgrund der Covid-19 Sicherheitsscheibe nichts mitbekommen haben.
Ich gehe auf mein Zimmer und bin erstmal glücklich über das Zimmer und genieße ausgiebig die warme Dusche. Alleine durch den Wasserverbrauch beim Duschen habe ich den Zimmerpreis schon lange wieder reingeholt. Ich ziehe nochmal los, denn ich habe Hunger. Mein Magen knurrt und ich mag meine Ankunft in Rom auch irgendwie feiern. Die erste Pizzeria hätte nur noch drinnen einen Platz für mich gehabt. Mir war nach frischer Luft und ich suchte weiter.
Im „5e28 – cucina e miscele“ wurde ich fündig und es gibt einen Platz für mich. Es ist ein wenig laut, da am Nachbartisch eine Familie mit ihrer knapp zweijährigen Tochter sitzt die lautstark Quengelt. Aber das stört mich überhaupt nicht. Als Vorspeise bestellte ich mir ein Carpaccio aus Sepia und als Hauptgericht gefüllte Calamari. Beides ein Genuss. Vor allem mal etwas anderes als Pizza, Pasta oder irgendwas aus meinem Rucksack.
Ich bin ganz glücklich, dass und wie ich hier in Rom angekommen bin. Ich bin sicherlich an der ein oder anderen Stelle ein paar mehr Kilometer gelaufen als notwendig gewesen wäre. Aber das gehört auf jedem Weg mit dazu. Einfach mal die Extra-Mile gehen für einen Weg der sich lohnt, an dessen Ziel man glaubt und der dem eigenen Leben Sinn verleiht, dadurch dass er sich auf das eigne Selbst zurückbehielt.
Pace e Bene.