Heute bin ich vor allem mal eins: Dankbar. Ich weiß, der Dank kommt üblicherweise erst zu Schluss, aber ich denke es ist gerade mal dran. Ich möchte allen danken, die mich mental auf dem Weg begleiten, mir ein gutes Gelingen, starke Muskeln und Durchhaltevermögen wünschen. Meiner Mutter danke ich, für alles was sie für mich getan hat und auch für ihre Zweifel. Diese Zweifel haben mich schon manches Mal in meinem Leben vor Übermut geschützt und so konnte ich eine ausgewogenen Balance von Risikobereitschaft und Achtsamkeit entwickeln. Denke ich zumindest. Ich möchte auch jenen danken, die mir Grenzen setzten oder mich frustrierten, denn ohne jene wäre ich nicht auf dem Weg. Na, und irgendwie bin ich selbst ja einer von jenen.
Ich übernachte in meiner Hängematte und wache ohne Wecker auf. Nach dem mir das Holländerinnen-Trio gestern beim Abendessen die Sacro Eremito di Camaldoli schmackhaft machte, räume ich meine sieben Sachen zusammen, nehme in der nahegelegenen Bar einen Espresso als Frühstück und zog los. Es sind direkt 300 hm zu überwinden. Der Weg führt durch ein wildromantisches Tal mit Bachlauf, bemoosten Felsen und Bäumen. Beim Weg habe ich die Wahl: ein Asphaltsträßchen oder den steileren, steinigen Waldweg. Der Waldweg erfordert Trittsicherheit, ist anstrengender und dafür kürzer, während das Sträßchen mit konstanter Steigung nach oben führt. Ich entscheide mich abzuwechseln, bin jedoch überwiegend auf der Straße. Die Ruhe die durch Vögelgezwitscher unterbrochen wird genieße ich. Eine Joggerin kommt mir mit Babyanhänger entgegen. Ich bin überrascht, dass ich schon nach knapp einer Stunde die Sacro Eremito erreiche.
Ich mache einen Rundgang durch die Sacro Eremito und genieße weiterhin die Ruhe. Eine Pilgergruppe sitzt im Garten der Eremita und singt zu Gittarrenklängen. Als ich die Eremita verlasse, ist es weniger ruhig. Eine Gruppe von Männern mit Tarnkleidung, orangenen Westen und Geländewagen quatscht wild durcheinander. Eine Jugendgruppe wartet und nacheinander steigen ein paar Jugendlichen zu den Männern in Tarnkleidung in deren Geländewagen. Dann fahren sie los. Mir scheint es geht hier um Walderfahrung, Tierbeobachtung oder ähnliches.
Ich breche auf und stelle nach kurzer Zeit fest, dass die größte Gefahr im Wald nicht die Wölfe oder Wildschweine sind sondern die Mountainbiker, die mir auf einem schmalen, gerölligen, steilen Pfad entgegenkommen. Zum Glück konnte ich rechtzeitig mit einem Rettungssprung ausweichen. Ich bin dankbar, dass die Mountainbiker sich durch lautes Rufen ankündigen und ich in diesem Moment aufmerksam war.
Dankbar kann ich zunächst in Stille sein. Wenn ich mir bewusst werde, wofür ich gerade dankbar bin, spüre ich wie sich meine Stimmung aufhellt und sich meine Muskulatur entspannt. Vielleicht bin ich dankbar für eine Intuition, vielleicht dankbar für meine Selbstdisziplin durch die ich meine körperliche Fitness aufgebaut habe, vielleicht bin ich dankbar für einen Brunnen mit frischem, kühlen Wasser, vielleicht auch für einen Regenschauer, der die Natur wässert damit Pflanzen und Wiesen aufblühen. Ich bemerke ein leichtes Grinsen, eine Fröhlichkeit zieht in mir auf. Wenn ich einem besonderen Menschen dankbar bin, dann profitieren beide, wenn ich dem anderen Menschen meine Dankbarkeit ausspreche. Das besteht vielleicht nur darin, dass ich „Danke!“ sage oder aber, dass ich ganz konkret benenne, wofür ich gerade dankbar bin. Gerade wird es mir wichtig meine Mutter anzurufen und ihr zu sagen wie dankbar ich für ihre Fürsorge bin.
Ich pilgere durch einen mystischen, heiligen Wald. Wenn ich meinen Blick durchs frische Grün streifen lasse, gesellt sich zum Schmerz der Anstrengung ein unbeschreibliches Glücksgefühl und ich bin dankbar, genau das hier und jetzt zu erleben. Dankbar bin ich auch den Menschen die den Weg markiert haben. Das gibt mir Klarheit und Sicherheit. So komme ich mit entspannter Leichtigkeit ans Ziel. Dadurch bin ich auch weniger genervt, da ich nicht dauernd den Pilgerführer rauskramen muss, um nachzuschauen und zu rätseln wie es weitergehen könnte und an welcher Mülltonne ich wohin abbiegen muss. „Nun geht es wieder in Kurven bergan, bis wir in einer Serpentine bei Müllcontainern nach rechts auf eine kleine Straße abbiegen.“ So steht es in dem Reiseführer geschrieben und ich kann nur hoffen, dass sich seit dem Druck des Reiseführers der Standort der Müllcontainer nicht verändert hat.
Der Franziskusweg verläuft über dem Bergkamm bis auf eine Höhe von 1.350m über NN. Der Weg ist gleichzeitig der europäische Fernwanderweg E1, welcher über den Feldberg nach Frankfurt hierher verläuft. Da fühle ich direkt heimatlich verbunden.
Um 14 Uhr bin ich in Badia Prataglia und treffe am Dorfplatz die Lehrerin, die ich gestern kennenlernte. Wir reden miteinander. Sie hat ihre Etappe für heute beendet und ihr Zimmer bezogen. Anschließend esse ich den Rest des Pecorino, dem italienischen Käse aus Schafsmilch, den ich in meinem Gepäck noch finde und mache auf einer Bank kurz Mittagsschlaf. Ich fühle mich noch fit und mache mich weiter auf meinem guten Weg.
Die nächste Etappe nach Rimbocchi sollte doch ein Klacks seins. Gerade noch mal 400 Höhenmeter auf den kommenden 10km. Aber die hatten es in sich. Nachdem es erstmal 50 Höhenmeter abwärts ging, schlängelte sich der Weg den Berg hinauf. Ich machte einige Pausen, um den Anstieg zu meistern. Der Scheitelpunkt lag bei 1.100m ü.N.N. und dann ging es direkt für die nächsten drei km ebenso steil bergab. Ich bin dankbar für meine Stöcke, denn sie geben mir Halt und Schutz vorm Abrutschen auf dem gerölligen Untergrund. Ich genieße die traumhaften Ausblicke: Eine bewaldete Hügellandschaft soweit das Auge reicht.
Hinter Frassineta steigt es nochmal kurz um 100 hm an, bevor der 4km lange und steile Abstieg nach Rimbocci folgt. Ein falscher Tritt und ich würde den Hang gnadenlos und unaufhaltsam hinunterrutschen. Meine Aufmerksamkeit liegt bei jeden Tritt und gleichzeitig schweift mein Blick in die nahe Umgebung, damit mir bloß keine Wegemarkierung entgeht.
Ich freue mich schon auf Rimbocchi, denn der Wanderführer verspricht dort eine Bar. Der Gedanke an ein kühles Erfrischungsgetränk motiviert mich weiterzulaufen. Unterwegs kommt mir ein alter Fiat Panda Trecking entgegen. Ich bin echt erstaunt, dass diese kleine, alte Karre mit maximal 45PS diese Strecke bewältigen kann. Jeder tiefergelegte 3er BMW hätte garantiert nach 100m sein Fahrwerk ruiniert. Der Mann stoppt kurz und fragt, ob ich heute noch bis La Verna will. Ich verneine und antworte, dass mein Tagesziel in Rimbocchi liegen wird. Er wünscht mir noch einen guten Weg und fuhr weiter.
Das letzte Wegstück übertrifft noch einmal alles steile und abschüssige was ich den ganzen Tag gelaufen bin. Dafür war ich kurz darauf in Rimbocchi, Ich freute mich, den die Tür zur Bar stand offen. Ich ging hinein und sah – Nichts! Außer ein paar Getränkeautomaten, ein paar Tischen und Bänken. Ich sah eine eisgekühlte Coca-Cola und wollte direkt ein Getränk ziehen. Doch ich hatte gerade noch drei 10 ct Münzen. Damit ist mein Traum gerade geplatzt und ich werde weiter nur Wasser konsumieren. Dennoch bin ich dankbar für diesen Tag und dies Lektion. Ab jetzt werde ich immer ein paar Münzen im Portemonnaie behalten.
Heute lief ich 20km über 950 Höhenmeter vom Kloster Camaldoli nach Rimbocchi.