Manchmal mag ich gerne unsichtbar sein und nicht entdeckt werden. So wie letzte Nacht. In dem geschützten Ort unterhalb des Santuario di Greccio war ich wohl für die Meisten unsichtbar und verbrachte eine Nacht mit erholsamem Schlaf. Da heute voraussichtlich nur wenige Kilometer vor mir liegen, lasse ich den Tag ruhig angehen. Ich warte bis sich die Erde soweit gedreht hat, dass das wie in die Felswand eingelassene Santuario so ausgeleuchtet wird, dass ich es fotografisch hübsch einfangen kann.
Durch das Sichtbare in der Schöpfung das Unsichtbare ergründen. Seit ich die Erklärung von Bruder Thomas in Assisi gehört habe, begleitet es mich bewusst: das Unsichtbare.
Welche Kräfte ziehen mich wie ein Magnet weiter und lassen mich nicht für den Rest meines Lebens an diesem wundervollen, friedvollen Ort verharren? Was treibt mich weiter? Was ist das Ziel? Wohin und mit welcher Perspektive? Was ist der Sinn des ganzen Weges?
Zu Franzens Zeiten gab es ja die modernen Errungenschaften wie Kranken- oder Rentenversicherung noch nicht. Wozu auch? Franz starb im Alter von knapp über vierzig, ebenso wie wohl einige seiner Zeit. Da kam die Sorge, wovon ich mich im Alter ernähre und wovon ich meine Miete zahle erst gar nicht auf. Und die Krankheitsversorgung lief häufig über die Ordensleute wo Kräuter oder auch die vier Säfte Lehre Anwendung fanden. Am Ende stand ein Heilungswunder. Aber die findet man ja auch heute noch.
Ich bin der erste Besucher des Santuarios und das Warten lohnt sich. Zu sehen ist das Fresko des Weihnachtsgeschehens in Bethlehem. Abgebildet ist wie Maria das neugeborene Jesuskind stillt. Diese Darstellung habe ich bis dahin noch nicht gesehen. Auch den Schlafraum des heiligen Franz sehe ich sowie andere erhaltene Räume aus früheren Zeiten. Ich bin berührt, berührt von der Energie die dieser Ort ausstrahlt. Es gibt noch eine Ausstellung mit Grippen aus aller Welt. Mich mutet es gerade nicht so weihnachtlich an und ich gehe weiter. Von einer Nonne erhalte ich im Museumsshop einen Stempel für meine Credential, meine Pilgerurkunde.
Ich folge den Beschreibungen in meinem Wanderführer und suche den weiteren Weg. Als ich die gewohnte gelb-blaue Markierung sehe, bin ich ganz beruhigt. Es geht auf schmalem Pfad mal wieder steil nach oben. Es ist erst ein schmaler Trampelpfad, den die Natur versucht zurückzuerobern. Später wird er breiter. Ich bin inzwischen daran gewöhnt und jammere nicht mehr so viel wie noch in vergangenen Tagen. Ich wuchs wohl inzwischen mit dem Weg zusammen. Der Weg und ich sind eins geworden und wir sind spirituell miteinander verbunden.
Aufgrund dieser besonderen Verbindung mag ich dem Weg ein wenig Empathie geben. Dem Weg Empathie geben? Blödsinn! Mag sein, das es blödsinnig ist und gleichzeitig ein Versuch wert. Denn das was ich über den Weg denke gehört ja irgendwie auch zu mir und so ist es letztenendes Einfühlung in meine Gedankenwelt. Ich denke so ein Weg hat es auch nicht leicht. Er gibt den Pilgern eine Richtung, versucht sich den Launen der Natur zu widersetzen und dennoch trampeln alle auf ihm herum. Wenn es mal glatt und eben läuft, dann sagt keiner was. Aber kaum wird es mal steil und unbequem wird das Gequängel groß. Nein! Auch wenn es eng und steil ist so jammere ich jetzt nicht, sondern bin auch diesem Weg dankbar, dass er mich schneller zum Ziel bringt als wenn ich ohne ihn, also ganz auf mich alleine gestellt begehen würde.
Irgendwann endet die Steigung eines jeden Weges. Dessen bin ich mir inzwischen auch bewusst geworden. Es geht nie nur bergauf und ist nie nur anstrengend. Es wird auch wieder leichter. Auf meinem Weg ist das der Fall, als ich den Sattel erreiche und mich mit einem Rückblick von dem Rietital und Greccio verabschiede. Von jetzt an schlängelt sich der Weg in einem Hochtal auf Wiesen durch Eichenwälder.
Ich sehe eine Herde mit zahlreichen weißen Kühen und einen Bauernhof kurz bevor ich in Prati ankomme. Ebenso sehe ich einen Wegweiser. Darauf lese ich Rom 123km. Allerdings zeigt Rom in die Richtung aus aus der ich gerade komme. In meiner Laufrichtung wird Terni und Assisi angezeigt. Also Orte die ich bereits besuchte. Das irritiert mich gerade und gleichzeitig bin ich voller Zuversicht, dass ich auf einem guten Weg bin.
Ich lief von Umbrien nach Latium und bin jetzt wieder zurück in Umbrien. Ich bin also 80km gepilgert, um gerade mal 15km weitergekommen zu sein als vor drei Tagen. Aber das ist ja alles relativ. Wäre das Sichtbare „nach Rom pilgern“ der einzige Sinn meiner Pilgerschaft, dann wäre ein Teil der vergangenen Wegstrecke Verschwendung von Zeit und Energie gewesen. Der für Andere unsichtbare Sinn besteht für mich in der Bewegung selbst, der Förderung meiner Gesundheit, der Inspiration durch die Zeit mit mir selbst und dem Franz schließlich an seinen heiligen Orte irgendwie zu begegnen, ihm näherzukommen.
Mir ist Gemeinschaft wichtig. In jeder Gemeinschaft gibt es Unstimmigkeiten, Zank und Streit. In der Gemeinschaft mit Gott hingegen gibt es Einigkeit, Ansporn, Unterstützung und die Sicherheit, dass mir Vergeben wird, wenn ich einmal nicht nach seinen Regeln handle. Das finde ich richtig klasse, denn ich habe die Sicherheit, dass keiner nachtragend ist, wenn ich das was ich tue auch aufrichtig bereue. Das ist auch das was ich mir im Leben für alle Gemeinschaften wünsche. Klärung und nachhaltige Vergebung. Die Wichtigkeit dessen ist mir klar. Anderen bleibt das was mir klar ist jedoch verborgen. Es bleibt unsichtbar.
Auch wenn ich noch nicht so viel gepilgert bin mache ich eine Pause am Campingplatz und gönne mir einen weiteren Cappuccino und einen Softdrink bevor ich weiterpilgere. Der Weg führt erst an der Straße entlang bevor er auf einen Schotterweg abzweigt, dieser verläuft steil und durch einen unvorsichtigen Schritt rutsche ich auf dem Geröll aus. Durch eine ausgleichende Bewegung kann ich mich glücklicher Weise auffangen. Kurz danach verspüre ich einen stechenden Schmerz im Bereich der rechten Brustmuskels. Erst habe ich Sorge, dann vermute ich, dass ich mich wohl durch die ruckartige Ausgleichsbewegung ein wenig gezerrt habe.
Kurz vor Stroncone fühle ich mich von den Wegweisern ein wenig veräppelt. An einer Kapelle lese ich es seinen noch 700m bis zum Ort. Auf dem nächsten Schild 500m, obwohl vom Ort noch nichts wahrnehmbar ist. Ich laufe eine Weile sanft bergab und quere eine asphaltierte Straße. Danach lese ich auf dem dahinterliegenden Wegweiser es seinen noch 1 km bis Stroncone. Erfreulicher Weise kann ich das Dorf mit seinen knapp 5.000 Einwohner bereits vor mir sehen. Endlich, denn ich will einfach nur noch von dieser Geröllpiste runter.
In Stroncone, einem beschaulichen mittelalterlichen Dörfchen gehe ich zunächst ein paar Einkäufe erledigen, bevor ich das „Casa di Helena“ ansteuere. Ich hatte es zwar auf einem Online-Portal gesehen, aber konnte mich nicht zu einer Buchung hinreißen lassen. Nun stand ich vor der Türe und klingelte. Helena selbst schaute aus einem Fenster des obersten Stockwerks heraus und sagte, dass sie mir noch ein Zimmer anbieten kann.
Ich bin überglücklich, denn das Ambiente in diesem mittelalterlichen Gebäude ist so schick, dass ich es mit Worten kaum beschreiben kann: ein Bad habe ich für mich alleine und darf bei Bedarf auch die Küche nutzen. Nachdem ich meinen Apfel, eine Tomate, zwei Kiwi gegessen hattee, gehe ich Duschen. Ich sehe mich im Spiegel und denke, dass ich dringend mal wieder eine Schweinshaxe esse sollte. Inzwischen ist es nicht mehr unsichtbar, dass ich an Gewicht verloren habe. Meine Haut konnte dem Tempo des Reduzierens wohl nicht folgen und mir scheint ich brauche eine Rückbildungsgymnastik
Ich blicke aus dem Fenster direkt auf Terni und kann nicht aufhören es zu betonen: ich bin so dankbar! Dankbar für alles was gerade geschieht. Und auch meine Dankbarkeit bleibt unsichtbar, bis ich sie ausspreche. Jetzt werde ich mal schauen was der Tag noch so bringt. Wo ich eine warme Mahlzeit herbekomme und wo ich eine Internetverbindung habe die so stabil ist, dass ich heute Abend meine Übungsgruppe leiten kann.
Im Park von Stroncone gibt es freies WiFi und ich wage von dort die Übungsgruppe mit sieben Teilnehmenden zu leiten. Ich berichte von meiner Befindlichkeit und teile Erlebnisse von dem Weg, bevor es an die Fragen und Themen der Teilnehmenden geht. Meine Befürchtungen treten nicht ein, das Netz bliebt stabil und wir hatten eine bereichernde Zeit. Meine Bedürfnistanks sind alle täglich gut durch diesen Weg gefüllt und deshalb bin ich zufrieden und glücklich.
Ich bin unabhängig von Orten und Unterkünften und kann frei entscheiden, wann ich wohin gehe, ob ich draußen übernachte oder mir eine Herberge suche. Durch jeden gepilgerten Kilometer entwickle ich mich weiter, stille meine Neugier während ich neue Land- und Ortschaften entdecke. Ich lerne mich selbst mit meinen Grenzen kennen und fühle mich ein was ich gerade brauche. Sobald ich müde und kraftlos bin entspanne ich und ruhe mich aus. Alles was ich für mein körperliches Wohlbefinden benötige, finde ich auf dem Weg. Trinkwasser zur Erfrischung gibt es gratis an zahlreichen Brunnen und die kleinen Lebensmittelläden in den Ortschaften halten alles bereit was ich brauche. Dabei häufe ich in meinem Rucksack nichts an, was ich nicht auch unmittelbar verzehren kann.
Ich verhalte mich meinen Werten entsprechend, lebe auf dem Weg in Bescheidenheit, Respekt der Umwelt und der Mitmenschen gegenüber um nur einige Beispiele zu nennen. Durch die Gemeinschaft mit anderen Pilger und die Geschichten des Weges erhalte ich zahlreiche Inspirationen und spirituelle Impulse, so dass meine geistigen Bedürfnisse gut genährt sind. Mit der Natur und mit mir selbst bin ich in Verbindung und fühle mich sicher geführt und geschützt. Kurzum alle wesentlichen Bedürfnisse sind erfüllt.
Nach der Übungsgruppe esse ich noch einen Salat und hausgemachte Spaghetti bei Mamme, dem Restaurant in meinem B&B. Um 22 Uhr höre ich eine Trommelgruppe, die den morgigen Nationalfeiertag anzukündigen scheint. Zufrieden blicke ich auf den Tag zurück.
Pace e Bene.