Meine Nacht im Schlafsaal war angenehm. Erst in den Morgenstunden waren die Vitalgeräusche der vier anderen Männern und der einen Frau wahrnehmbar. Einer stach besonders hervor, denn er konnte synchron Schnarchen und Pupsen sowie Grunzen und dabei erstaunlich laut atmen. Die ersten kruschpelten auch schon so ab 5 Uhr herum. Ich versuchte noch weiter zu ruhen. Ich habe immer noch keine Klarheit welchen Weg ich einschlagen werde. Jeder Reiseführer hat einen anderen Routenvorschlag. Ich denke ich werde wieder der Markierung folgen und lasse mich überraschen wohin sie mich führen wird.
Ich erhalte eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter meines Smartphones und erfahre, dass meine Mutter vergangenen Nacht ins Krankenhaus eingeliefert wurde. Verdammt! Denke ich mir. Was ist da los? Ich spüre wie mein ganzer Körper in Alarmbereitschaft ist. Der Frieden, den ich gestern noch in mir trug wandelte sich in Unfrieden. Ich brauche zunächst einmal Klarheit was los ist und rufe beim Krankenhaus an. Dort erfahre ich lediglich, dass ich in einer Stunde nochmal abrufen soll.
Ich bin in Aufruhr und denke bereits über Plan B nach. Notfalls müsste ich meinen Pilgerweg beenden, mit dem Taxi nach Florenz fahren und mit dem nächsten Flieger heimfliegen. Worst Case! Ich versuche mich selbst zu befrieden. Ich denke es ist verständlich, dass ich beunruhigt bin. Auf einer Skala von 1-10, wobei 10 maximal beunruhigt ist versuche ich mich einzuordnen. Wenn ich bedenke, dass meine Mutter alleine im letzten halben Jahr ca. sechsmal mit dem Rettungswagen ins Krankenhaus kam und spätestens am darauffolgenden Tag wieder entlassen wurde, entspanne ich ein wenig und ordne mich auf der Skala so bei 4 ein. Was mir dennoch fehlt ist die Klarheit.
Ich gehe zum Frühstück. Der Tisch sieht sehr übersichtlich aus und mir scheint ich darf mich weiter in Enthaltsamkeit üben. Es gibt zwei Zwieback, zwei Kekse, Erdbeermarmelade, Nusscreme, Honig und Butter. Dazu kann ich aussuchen, ob ich Kaffee oder Tee haben möchte. Ich wähle Kaffee. Danach packte ich meine Sachen und pilgere los.
Ich entscheide mich für den Weg, den der heilige Franz 1224 in schlechtem Gesundheitszustand lief, um zurück nach Assisi zu kommen. Ich lief erstmal den Berg hinunter nach Chiusi della Verna, durchquerte das Tal und steig auf der anderen Seite zum Monte Foresto wieder hinauf. Frieden trug ich gerade keinen in mir. Die Gedanken was mit meiner Mutter sein könnte blockieren mein Vorwärtskommen. Franz hatte den Weg gewählt sich von seinem Vater in harter Konfrontation loszusagen und hatte weder Frau noch Kinder. So lässt es sich leicht in Frieden leben, wenn man nur seinen eigenen Regeln folgt. Mein Weg ist an dieser Stelle jedoch ein anderer.
Und aktuell geht mein Weg mal wieder so steil nach oben, dass ich ihn noch nicht mal mit einem e-Mountainbike fahren könnte. Ich kämpfe mich Meter um Meter den Berg nach oben und dabei fällt mir auf, dass ich schon lange keine Markierung mehr gesehen habe. Der im Reiseführer beschriebene Forstweg endet vor einen Nadelwald.
Gut, denke ich, dann versuche ich erstmal Klarheit zur Lage daheim zu bekommen. Ich erfahre, dass meine Mutter wieder daheim ist und telefoniere kurz mit ihr. Jetzt wo ich klar sehe was meine Mutter betrifft, kümmere ich mich wieder um meine unklare Lage vor Ort. Ich bin verzweifelt und schreie laut in den Wald „Herr, sende ich mir ein Zeichen!!!“ Kurz darauf schickte mir der Herr ein GPS Signal auf mein Mobiltelefon und ich wurschtele mich durch bis zum nächsten Weg. Ich bin dankbar, für Googles Unterstützung.
Auf klar markierten Weg pilgere ich in Frieden weiter zur Eremo della Casella auf 1.241m über NN. Ein herrliches Fleckchen Erde friedvoll, ruhig mit Fernblick bis ins Tibertal. Hier verweile ich, mache eine Pause, genieße die Stille, den Fernblick und einen Apfel. Die Eremo della Casella ist offen. Sie besteht aus einem schlichten Kirchlein und angebautem Haus, das mit Tischen und Stühlen eingerichtet ist. Auch das wäre ein geeignetes und willkommenes Nachtlager.
Für heute müsste es das mit den Steigungen gewesen sein. Auf einer bequemen, breiten Forststraße pilgere ich in kontinuierlichem Tempo bergab. Beim Weg brauche ich mich kaum zu konzentrieren, nicht auf jeden Schritt achten. Meine Stöcke geben den Takt vor klick-klack, klick-klack. Wie in Trance zieht der Weg unmerklich an mir vorbei. Das Gewicht des Rucksacks spüre ich kaum. Es geht einfach immer so weiter. Kennst Du das aus Deinem Alltag? Alles läuft irgendwie und die Zeit vergeht. Als ich in Caprese Michelangelo ankomme, kann ich mich kaum an die vergangenem 10 km erinnern. Zügig zogen sie völlig unspektakulär vorbei. Die intensiven, schwierigen Strecken, wo ich an meine Grenzen stieß und mich verlief, verzweifelt war und nicht mehr weiter wusste, die sind mir noch sehr wohl in Erinnerung. Das bewusste Gehen jedes Schrittes, das Rückblicken auf Geschafftes und das Genießen der Aussichten das bleibt in Erinnerung.
Die Wetterlage ist gerade ein wenig unbestimmt und in Caprese kommen die ersten Regentropfen. Ich will vor dem Regen flüchten und steuere das Geburtshaus von Michelangelo. Auf dem Weg dorthin spricht mich eine blonde Frau auf Englisch an. Sie pilgert ebenfalls. Zu einem längeren Gespräch habe ich aufgrund des einsetzenden Regens gerade keine Lust und besichtige das Geburtshaus von Michelangelo. Außer dem Haus selbst und einem Dokumentationsfilm, sind einige Skulpturen von zeitgenössischen Künstlern und auch Kopien einiger Statuen von Michelangelo ausgestellt. Ich bin beeindruckt von deren ästhetischer Schönheit.
Ich weiß noch nicht wo ich die Nacht verbringen kann und mache in Caprese erstmal einen Rundgang. Irgendwie entdecke ich spontan keinen geeigneten Übernachtungsplatz. Ich laufe hin und her und mag erstmal in einer Pizzeria meinen Hunger stillen. Aber dort erfahre ich das Dienstag nachmittags die Küche kalt bleibt.
So pilgere ich vom Ortsausgang zurück in Richtung Michelangelos Geburtshaus, wo sich das Gasthaus Buca di Michelangelo befindet. Dort trinke ich erstmal ein Bier. Der Wirt bietet mir ein Zimmer an. Erst für €50, nach meinem hilfesuchenden Blick für €40. Ich gehe auf sein Angebot ein, dusche und gehe zum Abendessen. Dort sehe ich auch die blonde Frau, eine Dänin und wir kommen ins Gespräch. Sie startete ihre Pilgerreise vor Jahren direkt an ihrer Haustüre in Dänemark und hat bereits Deutschland und Österreich durchquert. Sie pilgert jedes Jahr ca. zwei Wochen und möchte in diesem Jahr nach Assisi.
Mit Freude genieße ich das, was ich heute geschafft habe und auch mein Einzelzimmer kann ich genießen. Mein Körper hat sich so langsam mit dem Gewicht des Rucksacks arrangiert und ich lasse den Abend in Frieden ausklingen.
Pace e Bene.