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Qualen

Landschaft

Erstmal frühstücke ich im Kloster und bin angenehm überrascht, denn es gibt Saft und Joghurt. Ich habe noch keine Idee welche Route ich heute wähle. Heute Mittag ist ein Gewitter vorhergesagt und ich habe keine Lust, bei Regen triefend nass durch die Wälder zu stapfen ohne Perspektive auf Unterstand oder trockene Unterkunft. Einfach in der Ebene von Dorf zu Dorf laufen erscheint mir jedoch todlangweilig, obwohl die Route vielleicht sicherer aber auch länger ist.

Nach langem hin und her entscheide ich mich für die Route über das Kloster in Monteluco, also erstmal hoch auf den Berg. Obwohl die Temperaturen angenehm sind, quäle ich mich die Serpentinen des Waldweges hoch. Ich schwitze so sehr, dass meine Kappe den Schweiß nicht mehr aufnehmen kann. Tropfen für Tropfen rinnt mir von der Stirn über die Brillengläser und schließlich am Nasenflügel vorbei in meinen Mund. So kann ich mich schon mal einstimmen, was mich bei Regen erwarten wird. Die Entfernungsangaben irritieren mich. Sie scheinen sich auf die Luftlinie zu beziehen, denn von Schild zu Schild erkenne ich kaum, dass ich meinem Ziel näher komme.

Klosterzelle aus dem 13. Jahrhundert

Kurz vor dem Kloster komme ich durch einen heilig anheimelnden Zauberwald. So einen Wald wünsche ich mir irgendwann an meinem Tagesziel! Ich besichtige das Kloster. Die spartanischen Zellen wurden auch von Franz und seinen Brüdern bewohnt. Später auch einmal von Michelangelo. Ein wundervoller, ruhiger Ort, der Kreativität und Inspiration fördert. Denn die entsteht nicht in einem lärmenden Umfeld und einer Fülle von äußeren Reizen.

Egal was jetzt noch kommt. Ich bereue es schon jetzt nicht, dass ich diese Route wählte. An einem Kiosk trank ich noch einen Cappuccino und eine Cola bevor ich mich aufmache nach Ceselli. Der Weg ist erstklassig beschildert und ich habe in keinem Moment Zweifel bezüglich der Streckenführung. Ein blonder Jüngling mit freiem und durchtrainierten Oberkörper kommt mir entgegen. Wir grüßen uns und kommen kurz ins Gespräch. Er heißt Sam und lebt in Australien. Er kam extra zur Hochzeit eines Freundes nach Italien. Unsere Wege trennen sich wieder und ich pilgere weiter. Erst auf breiteren Waldwegen, dann auf einem schmalen, gerölligen Pfad am Steilhang.

Die Aussichten rauben mir fast den Atem. Stellenweise wünschte ich mir ich sei ein Vogel und könnte jetzt direkt ins Tal gleiten. Beim nächsten Schritt holt mich die Realität ein, denn der wechselweise steinige und lehmige Boden ist rutschig. Dank meiner Stöcke kann ich mein Schlingern abfangen. Ab sofort laufe ich ein wenig achtsamer. Dennoch wirkt der ein oder andere Stein auf meine Wanderstiefel als wären es Rollschuhe. Die Strecke erfordert meine volle Aufmerksamkeit. Nur ein falscher Schritt und ich stürze wahlweise den Abhang hinunter oder mein Knie zerschellt an einem der dicken Steine. Beides keine angenehme Vorstellung und so versuche ich ein Tempo zu finden bei dem ich sturzfrei sicher vorankomme.

Hinter mir höre ich Stimmen und kurze Zeit später donnern drei Mountainbiker an mir vorbei. Für mich unvorstellbar diesen schmalen Pfad zu radeln. Naja, der Letzte in der Gruppe ist sich seiner Sache wohl auch nicht so sicher und steigt stellenweise ab.

Ich komme an einen kleinen Wasserfall. Noch bevor mir der Gedanke kommt, mich dort zu erfrischen, kommt eine Gruppe Italiener. Jeder hat einen Rucksack, die meisten auch ein Kletterseil, einen Neoprenanzug und auch einen Helm. Ich vermute es sind „Canyoninger“, die gleich dem Lauf des Wassers folgen werden.

Ich folge dem Weg und habe noch weitere Begegnungen mit Canyoningern und auch Canyoningerinnen. Eine hält ein Speiseeis in der Hand, was meine Hoffnung auf die Nähe zur Zivilisation steigen lässt. Noch wenige Male kann ich Ausrutscher vermeiden, dann erreiche ich eine Straße über die ich zügigen Schrittes abwärts pilgern kann. Ich bin einfach nur glücklich, dass ich diesen Weg gewählt habe. Der Weg selbst, das Kloster, die wundervolle Schöpfung der Natur, dafür bin ich gerade sehr dankbar.

Im 4 km entfernten Ceselli ersehne ich eine Bar, erkenne jedoch keine und stimme mich missmutig darauf ein bis ins nächstgelegene Macenano weiterzupilgern. Am Ortsausgang sehe ich einen Mann in meinem Alter. Mit freiem Oberkörper fährt er gerade die Mülltonne raus. Im nächsten Augenblick lese ich auf einem Schild an seinem Zaun „Panini-Birra-Caffee“. Die Veranda ist überdacht und schaut einladend aus. Ich frage den Mann nach Getränken und er winkt mich in sein Haus. Drinnen entpuppt es sich als der lokale Feinkostladen. In der geräumigen Kühltheke sehe ich Käse, Schinken, Salami, Cola und Bier. Ich kaufe nur die Getränke und setze mich zum Verzehr auf die Veranda. Ich werde müde. Da mir angeboten wurde auf der Terrasse zu entspannen, gönne ich mir ein Mittagsschläfchen.

Ein sanftes Trommeln weckt mich. Es regnet. Halleluja, denke ich und freue mich, dass ich genau in diesem Moment hier bin. Irgendwie fügt sich alles. Der Regen wird stärker. Richtig dicke Tropfen hämmern auf den Asphalt. Die Luft kühlt merklich ab und ich genieße meinen trockenen Platz unter der Veranda. Der Regen lässt nach, hört schließlich auf und es bilden sich dünne Nebelschwaden auf dem Asphalt. „Smoke on the Road here“ Damm-Damm-Daaaa-Damm-Damm-Da-Daaaa.

Ich pilgere die Asphaltstraße weiter bergab und gelange zum Fluss Nera, die mit ordentlicher Fließgeschwindigkeit durchs weite Tal mäandert. Ich pilgere zügig auf dem bestens markierten Wanderweg. Eine Stelle des Weges ist aufgrund eines Erdrutsches unterbrochen. Ich folge der markierten Umleitung. Der Weg verläuft überwiegend bergab und ich freue mich über mein zügiges vorankommen. Weniger freue ich mich als ich die dunkelgraue Farbe des Himmels über Ferentillo erblicke.

Regenpause in Ferentillo

Gerne wäre ich bis Marmore gekommen, aber aufgrund dessen was da gleich kommen könnte ändere ich kurzerhand meinen Plan. Ich mag mich gerade nicht durch Regen quälen. Im lokalen Supermarkt versorge ich mich genau den Produkten bei welchen mein Körper signalisiert, dass er sie haben mag. So landen zwei Kiwi, eine Tomate, 150g Pecorino, ein Bier und ein Eiweißdrink in meinem Einkaufswagen. Zugegeben, bei dem Eiweißdrink, hat mein Gehirn ein bisschen unterstützt, weil ich eben denke, dass ich außer ein paar Vitaminen auch paar Eiweiße brauche, damit mein Körper die Muskeln aufbauen kann, die er braucht, um die Strecke bis Rom zu bewältigen.

Ich verlasse den Supermarkt und kurz darauf beginnt es in Strömen zu schütten und zu hageln. In einem Treppenhaus finde ich Schutz und vertilge erstmal die Tomate, die Kiwis und den Eiweißdrink. Danach mache ich bei nachlassendem Regen einen Rundgang durch das kleine Dörfchen und habe schon eine regensichere Übernachtungsmöglichkeit ausgekundschaftet.

Beruhigt gehe ich in eine Pizzeria, wo ich den einzigen freien Tisch zugewiesen bekomme und trinke ein Bier. Ich bin neugierig wo die beiden Saarländer stecken und rufe an. Sie liefen nur bis Ceselli, wo ich heute die Mittagspause verbrachte, also gut 10 km hinter mir. Vielleicht begegnen wir uns morgen nochmal, falls die beiden morgen gut vorankommen.

Mehr und mehr Italiener, kommen zu mir an den Tisch. Nachdem der Pizzabäcker seinen Ofen abgeschaltet hatte setzt er sich mit einer Flasche Bier dazu. Er schenkt mir einen Schluck aus seiner Bierflasche in mein Glas und wir kommen ins Gespräch. Er mag wissen wo ich herkomme, wo ich hinwill und ich beantworte bereitwillig seine Fragen. Das übliche halt: ich komme aus Deutschland, startete in Florenz, will nach Rom und ja! Alles zu Fuß. Auch die anderen am Tisch schalten sich in das Gespräch ein. Einer war als LKW Fahrer auch schon in Deutschland unterwegs und musste für Falsch-Pinkeln €50 berappen.

Der Fernseher wird eingeschaltet. Es läuft Fussball und draußen regnet es noch immer. Der Chef fragt, wo ich die Nacht verbringen wolle. Ich sage, dass ich noch keine Idee habe, aber zuversichtlich bin einen Platz zu finden. Daraufhin bietet er mir an in seinem Laden zu übernachten, wenn ich ihm verspreche, dass ich nicht alle Schnapsflaschen leere. Auf diesen Deal kannich mich gut einlassen. Nach der ersten Halbzeit des Championsleague Finales zwischen Real Madrid und Liverpool, gehen alle Gäste nach Hause. Der Chef löscht alle Lichter und bittet mich nur noch den Fernseher auszuschalten bevor ich Schlafen gehe. Danach schließt er mich in der Pizzeria ein. Real Madrid gewinnt mit einem Tor und ich gehe Schlafen. Ich versuche es zumindest. Und irgendwann gewinnt meine Müdigkeit gegen das Brummen der Kühlaggregate.

Trotz der qualvollen Entscheidung der Streckenwahl, trotz des qualvollen Aufstiegs nach Monteluca bin ich zufrieden über den Tagesverlauf und die gesammelten Eindrücke, die mir ohne alle Qualen verwehrt gewesen wären.

Pace e Bene.

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Planen.

Spoleto

Ich mag es Pläne zu machen und diese Umzusetzen. Beim Planen ist der Wissensstand ja durchaus ein anderer als bei der Umsetzung. So konnte ich nicht wissen, dass ich die Saarländer in Trevi treffen werde und wir noch gemeinsam einen netten Abend verbringen. Dabei entstand nun eine verlockende Situation, die mich verleitete von meinem Plan abzuweichen. In diesem Moment war mir die Gemeinschaft mit diesen fröhlichen, pilgernden Gesellen einfach wichtiger als an meinem Plan festzuhalten. Natürlich war mir bewusst, dass ich noch kein Lager für die Nacht hatte. Aber irgendwie richtet sich schon alles, wenn man auf dem Weg ist. Darauf vertraue ich.

Es war stockfinstere Nacht als wir auseinander gingen. Ich suchte die Markierungen des Weges und folgte ihnen in Richtung Pissignano in der Zuversicht auf dem Weg würde sich schon irgendwo eine angenehme ruhige Ecke finden, wo ich mein Nachtlager aufschlagen könnte. So verließ ich Trevi und freute mich über die Funktionstüchtigkeit meiner Stirnlampe. Sie spendete auf der abschüssigen Schotterpiste zumindest soviel Licht, dass ich nicht in einem Schlagloch versank oder stolperte. Ich pilgerte durch schemenhaft erkennbare Olivenhaine. Die mochte ich jedoch nicht als Lager nutzen, da es vermutlich Privatgrund ist und ich am kommenden Morgen nicht einem Rasenmäher zum Opfer fallen wollte.

Weder an der Kapelle Croce die Bovara noch an der privaten Benediktinerabtei San Pietro di Bovara fand ich ansprechende Lagerplätze. Ich irrte im Dunkel umher und fand kurz vor Pissignano einen geeigneten Platz nahe dem Tempietto sul Clitunno. Der Platz war einigermaßen eben, dunkel und aufgrund der großen Nadelgehölzen nicht einsehbar. Einzig ein Hund scheinte mich zu wittern und bellte sich die halbe Lunge aus dem Hals. Nachdem ich mein Lager aus Isomatte, Schlafsack und aufblasbarem Kopfkissen gebaut hatte, trank ich noch ein Bier und fiel trotz Hundegebell erschöpft in den Tiefschlaf. Zweimal wurde ich in der Nacht noch wach, schlief erfreulicherweise immer wieder ein.

Im Morgengrauen fühle ich mich erstaunlich erholt, räume direkt meine Sachen zusammen und ziehe los. Das was mir jetzt noch fehlt, ist ein kleines Frühstück. Bereits nach 1 km finde ich am Ortsausgang eine ansprechende Bar. Ich bestelle einen Cappuccino mit der doppelten Menge Kaffee zum Wachwerden und ein Käse-Schinken-Panini, um den kleinen Hunger zu stillen. Während ich mein Frühstück genieße, erfreue ich mich an dem frühmorgendliche Treiben in der Bar. Dort scheinen sich morgens Kollegen, Freunde und Bekannte zu treffen, um mit lebendigen Gesprächen ihren Arbeitstag zu beginnen.

Da ich in der Nacht noch ca. 5 km zurücklegte, hatte ich heute bis Spoleto nur noch knapp 20 km zu bewältigen. Um 7 Uhr fülle ich in der Bar noch meinen Wassersack auf und bemerke dabei, dass nicht nur in der Bar ein buntes Treiben war sondern auch in meinem Rucksack. Unbemerkt sind dort wohl gestern Nacht ein paar Ameisen eingezogen. Nicht schön, aber auch Ameisen sind Geschöpfe des Schöpfers und so will ich mich damit erst später auseinandersetzen und pilgere los. Auf den kommenden Kilometern passiere ich zahlreiche Plätze die als Nachtlager soviel heimeliger und geeigneter gewesen wären. Aber das konnte ich nicht ahnen als ich mein Nachtlager aufschlug und weitere Kilometer wollte ich um kurz vor Mitternacht auch nicht mehr begehen. Deshalb hadere ich auch nicht mit meiner Entscheidung.

Jakobskirche in San Giacomo

Mir scheint der Reiseführer mag auf eine entsprechende Anzahl von Höhenmetern nicht verzichten. So lief ich erstmal leicht bergauf nach La Bianca. Von dort wieder hinunter nach nach San Giacomo. In der Jakobskirche bestaune ich den Freskenzyklus von Lo Spagna, einem Maler der Renaissance. In der Darstellung ist außer der Marienkrönung auch das Hahnenwunder von Santo Domingo de la Calzada vom spanischen Jakobsweg dargestellt. Ich staune, dass diese Fresken vor knapp fünf Jahrhunderten hier geschaffen wurden. Wieviele Menschen mögen diese Fresken in dieser Zeit gesehen haben? Was mag die Menschen in ihrer Zeit bewegt haben?

Pilgern ist ein spiritueller Biathlon: Erst Strecke zurücklegen, dann Innehalten beim Besuch einer Kirche oder eines anderen spirituelle Ortes und dann wieder Strecke zurücklegen. Am Ende des Tagens werden bloß keine Gold-, Silber- oder Bronzemedaillen vergeben.

Anschließend pilgere ich auf dem Damm des ausgetrockneten Torrente Marroggia weiter nach Spoleto. Ich komme zügig voran und passiere um 9h30 den Ortseingang von Spoleto. Der Weg führt recht stupide an einer Ausfallstraße durch die Vorortsiedlungen leicht bergan. Ich gehe in einen Supermarkt und kaufe ein Lebensmittel. Dabei beobachte ich mein Einkaufsverhalten. Überwiegend kaufe ich Lebensmittel die ich daheim weniger kaufe, dafür lasse ich andere die ich daheim eher kaufe im Regal. Es zieht mich zum Obstregal und ich kaufe Äpfel und eine Birne. Schokolade und Chips oder Nüsse bleiben im Regal. Scheinbar versteht mein Gehirn die Botschaften meines Körpers und lenkt mich. Ich wundere mich auch darüber, dass ich den ganzen Tag über nur wenig Nahrung benötige.

Weshalb ist das im Alltag so anders? Beschäftige ich mich mehr mit dem Essen und esse weil mein Tagesplan es vorsieht, wann ich esse und höre weniger auf meinen Körper? Oder esse ich im Alltag um mich zu belohnen oder aus Zeitvertreib? Also hier auf dem Weg reicht mir trotz körperlicher Anstrengung weniger Nahrung. Vielleicht nährt mich die geistige Inspiration und ich denke einfach weniger ans Essen. Ich weiß es eben nicht. Cola steht in der Regel nie auf meinen Einkaufsliste. Hier packe ich jedoch auch Softdrinks ein. Meine Einkäufe schleppe ich bis zum Stadttor von Spoleto. Dort ist ein Park der mich einlädt eine Pause einzulegen und die Birne und Cola direkt zu Verzehren.

Die Nacht im Konvent di San Francesco di Monteluca zu verbringen, stelle ich mir als inspirierendes Nachtlager vor. Ich steige immer weiter die Gässchen in Spoleto auf und besichtige den Dom, welcher schon zu Lebzeiten von dem heiligen Franz hier stand. Vielleicht habe ich gerade keinen Sinn dafür, aber einen bleibenden Eindruck hinterlässt die Innengestaltung nicht. Ich freue mich als ich die Wegezeichen in Richtung Monteluca sehe und folge dem Pfad, der mich erst auf einen Panoramaweg führt und dann über eine Brücke verlaufen würde. Eben „würde“, wenn diese Brücke, die Goethe bereits bei seiner Italienreise begeistert erwähnte, nicht seit dem Erdbeben 2016 gesperrt wäre.

Allein die Vorstellung hinunter ins Tal zu pilgern, um auf der gegenüberliegenden Hangseite erst auf gleiches Niveau und dann noch höher aufzusteigen, weckte keine Begeisterung. So laufe ich zurück in die Stadt ins Tourismusbüro, wo ich zuvorkommende Unterstützung in deutscher Sprache erfahre. Dieser Plan geht auf, der Mann im Tourismusbüro organisierte mir ein Zimmer bei den Schwestern des Kindes Jesu , wo ich ich direkt hinpilgere. Das Schwestern Kloster ist ein sehr friedlicher Ort, wo ich freundlich empfangen werde und nach alle Formalitäten mein Zimmer mit Dusche und WC beziehe. Ich wasche zuerst mich selbst und danach meine Sachen, bevor ich in den Tiefschlaf verfalle.

Der heilige Franz hatte auch Pläne. Nur allzu gerne wäre er durch Teilnahme am Kriegsdienst ein geehrter und geachteter Ritter geworden. So zog er mit einigen Adeligen aus Assisi in den in den Krieg und übertraf alle mit mit prunkvollen Kleidern und Waffen. Was auch immer auf den knapp 50 km zwischen Assisi und Spoleto passierte, hier in Spoleto bekam er Fieber und konnte nicht weiterreisen. Er verschenkte seine Rüstung und seine Waffen und kehrte unter Hohn und Spott zurück nach Assisi. Nun musste er umdenken und neue Pläne schmieden, um Anerkennung zu finden und gesehen zu werden.

Als ich aus meinem Mittagsschlaf erwache ist es bewölkt und ich höre die ersten Donnerschläge, obwohl es gemäß Wetterbericht heute gar nicht gewittert, sondern erst morgen. Das Wetter kann auch jederzeit meine Pläne beeinflussen. Einerseits will ich auf meinem Weg nach Rom vorankommen und gleichzeitig kann ich mir nicht vorstellen, die Steilhänge wie in den vergangenen Tage auch noch bei Gewitterregen zu bewältigen. Aber das ist ja erst morgen. Heute bin ich hier in Spoleto und mag zumindest ein paar Eindrücke von Spoleto aufsaugen. Ich habe einen Schlüssel für die Klosterpforte und kann jederzeit ein- und austreten. Ich gehe in eine Bar auf dem Marktplatz, bestelle ein Bier und genieße die Atmosphäre.

Pilgergruppen ziehen vorbei, Touristen gehen in die Snack Bar, um sich mit einem Getränk zu erfrischen. Regen setzt ein und mehr und mehr Menschen suchen Zuflucht in der Bar. Leider halten die großen Schirme nicht was sie versprechen und ich flüchte mich in den Innenbereich. Ich freue mich gerade, dass ich nicht stur an meinem Plan festhalte und ihn mit aller Gewalt umsetze sondern meine Pläne flexibel und agil an die Gegebenheiten anpassen kann. Genau mein Ding, denn so kann ich trotz veränderlicher äußerer Begebenheiten dennoch auf meinem Weg vorankommen.

Ich habe gerade noch keinen Plan, wie ich den Abend verbringen werde. Das ändert sich als ich über Whatsapp mitbekomme, dass die beiden Saarländer ebenfalls in Spoleto angekommen sind. Wir verabreden uns und treffen uns zum Abendessen in einer kultigen Kneipe.

Das Restaurant „Al 3.0 Bistrot“ wird von drei Frauen geführt. Eine kocht, eine bedient und eine serviert. Die Speisekarte hatte keine Preise, dafür umso interessante Gerichte. Ich nahm einen Salat mit Thunfisch und hausgemachte Tagliatelle mit hausgemachter Wildschweinsauce.

Meine Salatportion war reichlich groß und kreativ dekoriert. Die Tagliatelle war ebenfalls lecker und pikant abgeschmeckt. Kein Vergleich zu dem Restaurant in Trevi, wo der Salat ebenso lieblos serviert wurde wie das geschnittene Steak und die Preise „wegen Corona“ je Gericht 2€ teurer waren als auf der Karte angegeben. Wir erzählen von unserer Tagesroute. Da ich die Route durchs Tal wählte, war ich noch vor dem Regen in Spolento angekommen. Die Beiden liefen die hügelige Strecke und wären vom Hagelschauer überrascht worden, hätte sie nicht vorher ein Auto nach Spoleto mitgenommen.

Es war ein geselliger Abend und ich gehe zufrieden zu meiner Klosterherberge zurück. Pace e Bene.

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Offenheit.

Stadtansicht Trevi

Ich bin früh wach und verlasse bereits um 7 Uhr meine Unterkunft. Ich verlasse Assisi über den schnurgeraden Weg zur Basilika Santa Maria Degli Angeli. Wenn ich meinem Reiseführer trauen darf ist es sogar eine der größten Kirchen der Welt. So groß, dass in der Vierung unter der Kuppel ein kleines Kirchlein Platz findet. Soweit ich weiß ist der heilige Franz hier gestorben und wollte auch hier beerdigt werden. Doch der Papst hatte anders entschieden.

Ich genieße in einer Bar gerade noch einen Cappuccino, ein Schinkencroissant und einen Saft, da sehe ich die Münchnerin auf dem Weg zur Kirche. Ich winke ihr zu und sie zeigt sich überrascht, weil sie mich so früh nicht hier erwartet hätte. Wir wechselten ein paar Worte, dann besichtigt sie die Basilika. Als ich mit meinem Frühstück fertig bin, endete auch ihre Besichtigungstour. Wenige Meter gehen wir noch gemeinsam bevor wir uns herzlich und endgültig verabschieden. Sie pilgert zum Bahnhof und ich weiter in Richtung Rom.

Meine Etappe verläuft überwiegend eben. Denke ich zumindest bis ich in Rivereto eines besseren belehrt werde. Zumindest bis dahin komme ich mit meinen Stöcken zügig voran. Als ich einen älteren walkenden Herren überhole sagt er, das rhythmische Klackern meiner Stöcke klänge so, als würde ihn ein Traktor überholen. Gleichmäßig und zügig komme ich voran. Hinter Rivereto führt mich eine steile Straße unter meinem leisem Jammern den Hang hinauf. Oben angekommen pilgere ich auf einem Panoramaweg mit Blick über die vor mir liegende Ebene. Erst laufe ich auf einer Nebenstraße, dann auf Schotterwegen. Immer oberhalb der Superstrada, dessen Verkehrslärm so laut ist, dass er selbst das Klackern meiner Wanderstöcke übertönt. Ich bin genervt, denn ich wünsche mir Ruhe, um den Weg zu genießen.

Bei meinem konstanten Tempo erreiche Spello bereits um 11h30. Ein blühendes Städtchen mit mittelalterlichem Charme. Eigentlich ein Ort zum Entdecken, Verweilen und Wohlfühlen. Doch mir war heute eher nach Strecke zurücklegen als nach mittelalterlicher Stadterkundung. Irgendwie will ich auch den Abschied verarbeiten. Alle Pilger die ich in den vergangenen Tagen traf, die so herzlich offen waren, über die Begegnungen die mich jedes Mal erfreuten, wenn ich sie auf der Strecke oder im Ziel sah. Sie haben ihre Pilgerreise in Assisi beendet und sind bereits auf der Heimreise.

Ich bin selbst erstaunt, dass innerhalb so kurzer Zeit aus mehrfachen, flüchtigen Begegnungen diese Verbundenheit entsteht. Ich glaube, weil sich die Pilger unabhängig von Berufsbild, Status, Einkommen, Alter und Geschlecht offen und authentisch in Augenhöhe einander begegnen. Pilger hören mit Aufmerksamkeit den anderen zu. Alle Pilger sind vereint durch ihre individuelle Erfahrung auf dem Weg. den jeder mit seiner Last in seinem Tempo begeht. Ich glaube, wenn sich die Menschen im Alltag so begegnen würden, wie sie sich als Pilger begegnen, wäre die Welt ein friedlicherer Ort.

Über eine Nebenstraße die parallel zur Superstrada geführt wird gelange ich bereits eine Stunde später nach Foligno. Hier verkaufte Franz auf dem Markt die Stoffe seines Vaters, um die Renovierung von San Damiano zu finanzieren. Leider erscheint mir Foligno wenig attraktiv. Ich verbringe hier meine Mittagspause mit einem erfrischenden Weizenbier an der Piazza und ziehe beschwingt weiter. Beschwingt bis ich die Hauptverkehrsstrasse erreiche, an welcher der Weg verläuft. Wieder bin ich genervt.

Das Thermometer steigt auf 32Grad und bergauf quält mich jeder einzelne Schritt. Mein Tempo lässt mit zunehmender Temperatur und der Menge an gelaufenen Kilometer stetig nach. Aber ich habe mich ja bewusst für eine lange Etappe entschieden und mir hätte klar sein können, dass dieser körperliche Schmerz kommen wird. Vielleicht wird es dadurch leichter den seelischen „Schmerz“ des Abschieds von den anderen Pilgern zu überwinden.

Piazza in Trevi bei Nacht.

Ich bin 4 km vor Trevi. Die Fußsohlen brennen vom Laufen auf dem heißen Asphalt. Nach einer Steigung blicke ich zurück. Assisi ist am Horizont nur noch schemenhaft zu erkennen. Ich erreiche eine Bar und entscheide mich zu einer kurzen Erfrischungspause und hoffe durch eine Cola und ein Radler meine Energiereserven ein wenig aufzufüllen. Ich laufe weiter, der Weg steigt weiter an. Auf einmal lese ich nach dem Schild mit der Kilometerangabe Trevi 2km plötzlich 3,2km. Ich bin verzweifelt. Egal, jede Form der Jammerei hilft mir jetzt nicht mehr. Auch nicht auf der steilen Rampe über welche ich eine ebene Straße und auch Trevi erreiche. Am Ortseingang gibt es ein wundervolles Panorama von Trevi.

Und wer taucht am Horizont auf? Die zwei Saarländer. Sie sind die Etappe mit einer Übernachtung in Spello in zwei Tagen gelaufen. Die Freude ist groß und wir haben beim Apero und beim Abendessen eine gesellige Zeit verbracht. Die Frage nach meinem Nachtquartier ist noch offen. Darum kümmere ich mich als Nächstes und da bin ich für alles offen. Pace e Bene.

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Neid.

Panorama Monte Subasio

Gelegentlich bin ich neidisch. Nicht auf diejenigen die mehr oder schönere Sachen oder was weiß ich haben. Nein. Hier auf dem Weg bin ich gerade beim bergauf pilgern neidisch auf diejenigen, die mit leichterem Gepäck unterwegs sind und nicht so schwere Lasten mit sich herumschleppen wie ich. Das sind die Momente, wo ich mich besinne weshalb ich so viele Dinge dabei habe. Überwiegend, um meine Unabhängigkeit von Wetter und Zimmerverfügbarkeit sicherzustellen. Und schon wird es leichter. Um mich dennoch mal einzufühlen, wie es ist mit leichtem Gepäck unterwegs zu sein, pilgere ich heute nur mit Daypack Rucksack hoch auf den Monte Subasio.

Leicht geht es aufwärts. Oben angekommen genieße ich den atemberaubenden Blick über Umbrien. Ich bin ganz nah am Himmel. Von hier oben, vom Gipfel gewinne ich den Überblick. In Einsamkeit und Stille blicke ich auf meinen Weg zurück, blicke auf die Etappen die vor mir liegen und genieße mein Sein im Hier und Jetzt. Von hier oben schaut alles zum Greifen nahe aus. Ich reflektiere mit wem war ich gerne auf einer Wegstrecke, mit wem lief es leicht und mit wem war es eher anstrengend, beziehungsweise wem laufe ich hinterher und vor wem laufe ich weg?

Ich sinniere über das Bild auf welchem Franz die Tauben segnet und wo er sich über das Evangelium den Weg vom Sichtbaren hinein ins Unsichtbare, die Schöpfung und darüber den Weg zu Gott erschlossen hatte. Genau so verhält es doch, wenn ich jemanden kennenlerne. Vom Sichtbaren der Kleidung, der Mimik, der Gestik, dem Verhalten erschließe ich mit das Unsichtbare, eben die Werte und Einstellungen des Anderen.

Gerade kommt mir der abstrakte Gedanke: „Städte sind Stätten, wo des Schöpfers Geschöpfe schöpften und dort heute meist erschöpft sind.“ Es hängt alles irgendwie zusammen.

Ich steige vom grasbewachsenen 1.290m hohen Gipfel des Monte Subasio wieder hinab. Der Weg über die Straße erscheint mir unverhältnismäßig lang und so laufe ich auf Sicht einfach der Falllinie nach zu einem Gipfelkreuz. Dann suche ich mir Trampelpfade und wie aus dem Nichts taucht plötzlich ein Wegweiser zur Eremo Cerceri auf. Der Weg verschwindet im Wald und ich auf demselbigen ebenso. In Serpentinen laufe ich beschwingt und mit Leichtigkeit abwärts.

Statue des Franziskus

Ich besichtige die Einsiedelei und genieße die Ruhe. Zuerst betrachte ich mir San Francescos Schlafstelle und seine Kapelle. Verlasse diese Stätte durch eine winzige Tür, die ich nur gebückt und mit angelegten Armen passieren kann. So gelange ich in eine Schlucht in welcher ich die Höhlen der ersten Brüder besichtigen kann. In der Luft liegt ein Duft von Thymian.

Die Franziskus Statue beeindruckt mich, denn sie umfasst alle Weltreligionen und drückt die universelle Liebe des Franziskus aus. Ich pilgere zurück nach Assisi, um mich erstmal in einer Bar zu erfrischen, denn mein am Morgen begonnener Rundgang war immerhin 22km lang, wobei ich über 1.000 Höhenmeter überwand. Es war fast spielerisch diesen Weg mit leichtem Gepäck zu begehen.

Danach laufe ich zu San Damiano, ein wenig außerhalb von Assisi. In dieser Kirche empfing der heilige Franz von dem Kreuz die Botschaft, dass er die Kirche renovieren solle. Daraufhin nahm er ungefragt die Stoffe seines Vaters und verkaufte sie auf dem Markt in Foligno, um das Geld für die Renovierung zu bekommen. Sein Vater war damit nicht einverstanden, was ich durchaus nachvollziehen kann und es entstand der Konflikt .

In San Damiano waren einige Touristengruppen und es gab sogar Führungen in Gebärdensprache. Die heilige Chiara, die Franz sehr nahe stand, lebte und starb dort im Alter von 60 Jahren. Es berührt mich, wie sehr für Franz und auch für Chiara die Suche nach Sinn so viel erfüllender war, als die Suche nach Erfolg und monetärem Wohlstand.

Kreuz in San Damiano

Anschließend besichtige ich noch die Basilika Santa Chiara wo das Originalkreuz aus dem 12. Jahrhundert hängt. Die Gestaltung des Jesus am Kreuz begeistert mich, denn ich erkenne Jesus nicht leidend und gewunden am Kreuz, sondern aufrecht und geradezu aufstrebend. Das macht diese Darstellung besonders.

Anschließend gehe ich zurück auf mein Zimmer, schnappe mir einen Stuhl, setzte mich auf den Balkon der Herberge. In der Abendsonne genieße ich den Blick über die Ebene.

Um 19 Uhr pilgere ich auf die Piazza Comune und bin überrascht, dass ich keine bekannten Pilger sehe. Ich erinnere mich an die Verabredung, dass alle die noch verblieben sind, sich noch einmal zum Abschied treffen. Aber vielleicht sind Abschiedsrituale nichts für den ein oder anderen. Eine Weile sitze ich alleine in der Bar. Dann trudelt erst die Münchnerin und dann die Lehrerin, die heute in Assisi ankam, ein. Von den anderen war immer noch keine Spur und so gehen wir zu dritt in die Pizzeria Othello. Ich nehme wieder einen Salat und einen Portion Pasta mit Wildschweinbolognesesauce. Sehr lecker und bestimmt förderlich für die Etappe des nächsten Tages.

Als die Dämmerung einsetzt, gehen wir noch gemeinsam zur Basilika San Francesco, um die Abendstimmung einzufangen. Die Stimmung ist ein wenig wehmütig, denn wir werden uns wohl nicht wieder sehen. Wir trennen uns in Dankbarkeit für die Begegnung.

Ich bin kein bisschen neidisch, dass sie weiter in Assisi bleiben beziehungsweise morgen nach Hause fahren. Nein ich bin zufrieden und froh mit dem was ich habe: eine weitere Zeit auf meinem weiteren Weg nach Rom. Ich betrauere jedoch die Trennung von den in kurzer Zeit so vertraut gewordenen Menschen, aber so spielt das Leben. Es besteht aus Veränderungen, aus Begegnungen und Trennungen. Wobei ich das was ich in einmal in ein Herz geschlossen habe, nicht mehr raus lasse. Auch wenn es für mich nicht mehr greifbar ist. Pace e Bene.

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Mitte.

Graffitti Assisi

M steht im Alphabet in der Mitte und ich pilgere heute zur Mitte meiner Pilgerreise: meinem Zwischenziel Assisi. Dort wurde der Heilige Franz geboren, dort hatte er mit seinem Vater gebrochen und bereits zwei Jahre nach seinem Tod begann dort der Bau der Basilika über seinem Grab. Am Morgen treffe ich wieder zahlreiche Pilger in der Bar. Ich genieße einen Cappuccino und ein Croissant und ziehe los, denn ich mag den 16 km langen Weg und mit den ersten Steigungen der insgesamt 630 Höhenmetern in Ruhe und in meinem Tempo alleine genießen.

Valfabbrica verlasse ich an einer Mauer mit Graffitis, welche Szenen aus dem Leben des Franz darstellen. Bald geht es in den Wald und schon wird es steil. Jeder Schritt wird von Vogelgezwitscher und dem Geplätscher des Baches melodisch begleitet. Noch ist die Luft angenehm temperiert und sauerstoffreiche, so dass ich gut vorankomme.

Beim Aufstieg sinniere ich über Zwischenziele, Lebensziele, die Bedeutung dessen was ich habe, was ich eben bin und was von beidem erstrebenswert ist. (Beispiel: „ich habe Kinder.“ ist eine andere Aussage als „ich bin Vater.“) Ich erinnere mich dabei an ein Gespräch auf dem Weg. Als der Bekannte eines Mitpilgers erfahren hatte, dass er den Franziskusweg laufen wird schwärmte der Bekannte, dass dies sein Lebensziel sei: Einmal den Franziskusweg zu pilgern. Ich wunderte mich und fragte weshalb er es dann nicht einfach macht? Die Antwort liegt auf der Hand: Wenn das Lebensziel erreicht ist, was kann dann noch kommen?

Ähnliches hatte ich erlebt. Mein Lebensziel war es mit dreißig mit einer Familie ein eigenes Haus mit Garten zu bewohnen. Das Ziel habe ich erreicht und mit meinem dreißigsten Geburtstag begann nicht nur ein neues Lebensjahrzehnt sondern auch meine Krise. Ich habe alles erreicht, was ich wollte. Was kann jetzt schon noch kommen? Diese Krise dauerte zehn Jahre und es entstand eine Fantasie, dass ich meinen vierzigsten Geburtstag wohl nicht erreichen werde. Rückblickend freue ich mich total, dass ich den vierzigsten und inzwischen sogar den fünfzigsten Geburtstag erreicht habe und ich diese Krise überwunden habe.

Die Zeit nach meinem vierzigsten Geburtstag ist für mich geschenkte Zeit und daraus resultiert Freiheit und Autonomie. Vielleicht war ich ein wenig zu autonom in meiner Lebensmitte. Einerseits einer Zeit eines neuen Aufbruchs, eine Revolution die mein Leben in vielen Schattierungen veränderte. Scheinbar benötigen radikale Änderungen auch radikale Brüche. Eben so wie bei Franziskus, der radikal mit seinem Vater brach, um umzubrechen, um ein neues Leben in Armut zu beginnen. Manches geht einfach nicht schleichend oder scheibchenweise, sondern nur auf einmal am Stück.

Auf dem Weg ist mir nochmal bewusst geworden, dass es mir nützlicher erscheint, individuelle Ziele zu entwicklen und zu erreichen. Welche Art von Mensch möchte ich sein, wie möchte ich mit meiner Mitwelt umgehen, wie möchte ich mit Geld umgehen, etc. Fürsorglich und wertschätzend für Andere da sein und mich selbst dabei nicht aus dem Blick zu verlieren. Ich denke, dass ist für mich ein attraktives Lebensziel.

Entlastung am Pilgerkreuz

Ich sammele ein Stein auf und trage ihn in der Hand der Berg hinauf. Am Pilgerkreuz, dem höchsten Punkt der heutigen Etappe, entledigte ich mich eines Steins. Ein symbolisches Ablegen einer Last, die ich mit mir herumtrage. Das mich zum nächsten Punkt bringt. Welche Lasten schleppe ich denn im Leben mit mir herum und was hindert mich daran mein Lebensziel umzusetzen?

Am Pilgerkreuz werden Glücksgefühle wach, denn in der Ferne kann ich bereits die Basilika in Assisi sehen und mein Zwischenziel ist in greifbarer Nähe. Ich treffe die dänische Kindergärtnerin wieder. Ihr wurde auf dem Weg bewusst, wie wichtig ihr die Zugehörigkeit zur Gruppe der Pilger ist. Und das erfreut sie so sehr am Pilgern. Alle Pilger begehen den Weg mit ihren Themen. Die Gespräch sind eher tiefgründig, bedeutungsvoll und berührend. Zumindest mit den meisten Pilgern. Und dabei ist es völlig unabhängig, ob da eine Unternehmensberaterin, eine Ärztin oder ein Facharbeiter auf dem Weg sind. Die Themen, wie Leben gestaltet werden kann, wo die Quellen der Inspiration stecken sind bei nahezu allen identisch.

Meine Ankunft in Assisi 24.05.2022

Als mich die Münchnerin in der Pause einholt, gehen wir die restlichen Kilometer nach Assisi gemeinsam. Ins Gespräch vertieft, haben wir wohl eine wesentliche Markierung übersehe und irrten durch eine Talsenke. Wir laufen wieder zurück, gelangen auf den richtigen Weg und steigen die letzten Meter gemeinsam mit der Dänin die steile Asphaltstraße nach Assisi auf. Nach Durchschreiten der Stadtmauer stehen wir vor der Basilika San Francesco. Ich bin glücklich und freue mich, dass ich das Zwischenziel Assisi erreicht habe.

Auf dem Weg in die Basilika entdecke ich das Pilgerbüro und erhalte einen weiteren Stempel und die Pilgerurkunde für mein Zwischenziel. Bei Verlassen des Pilgerbüros werden ich von Bruder Thomas aufgefischt. Er ist Franziskaner und für die deutschsprachigen Pilger in Assisi zuständig. Er lädt uns für 16 Uhr zu seiner deutschsprachigen Führung ein. Wir danken, machen eine erste Erkundung in der Basilika und setzen uns nochmal auf eine Bank. Es tauchen nach und nach die anderen Pilger auf. Ich freue mich, alle nochmal wieder zu sehen. Wir verabreden uns für 19 Uhr auf der Piazza Comune.

Ich habe noch kein Zimmer und telefoniere mich durch die kirchlichen Unterkünfte. Leider sind diese alle belegt. Für heute zumindest, morgen sei noch alles frei, aber heute leider nicht. Ich bin frustriert, dass kein Bett mehr für mich frei ist und mag auch nicht mehr so viele Unterkünfte abtelefonieren. Ich buche über Booking.Com die Unterkunft mit dem besten Preis-Leistungsverhältinis für die kommenden beiden Nächte. Hier in Assisi mag ich nicht einfach nur durchhetzen sondern gemütlich verweilen, die Stimmung auf mich wirken lassen und weitere spirituelle Orte in der Umgebung erkunden. Ich buche Camere Mariani Marini für 70€. Eine schlichte, aber saubere Unterkunft mit Ausblick über die Ebene. Leider ohne Frühstück, aber das macht mir nichts aus, denn aufgrund der zentralen Lage sind zahlreiche Bars schnell zu erreichen.

Franziskaner Bruder Thomas und ich

Ich suche die Unterkunft auf, wasche meine Wäsche, dusche, mache noch einen kurzen Mittagsschlaf und eile zur Basilika, damit ich die Führung auf keinen Fall verpasse. Da hätte ich auch wirklich was verpasst, denn Bruder Thomas aus Speyer hat in feinstem Pfälzer Dialekt über eine Stunde lang anhand der Wandbilder der Kathedrale die Botschaft von dem heiligen Franz verkündet. Es war sensationell und hat mich in meinem Verständnis weitergebracht als hätte ich es mir selbst erschlossen. Anhand des Evangeliums die Schöpfung und den Schöpfer vom Sichtbaren ins Unsichtbare ergründen. Die Führung von Bruder Thomas war frei von religiösem Schnickschnack und ich erhielt ein lebendiges Verständnis von den Ideen des heiligen Franz und der Bildsprache der mittelalterlichen Malerei. Eine wahre Quelle der Inspiration, die mein Verständnis von Armut, Gehorsam und Keuschheit vertiefen.

Am Abend trafen sich der harte Kern des Pilgergrüppchens um 19 Uhr an der Piazza. Wir tauschen uns aus und verabschieden die Saarländer die bereits morgen weiter in Richtung Rom ziehen werden. Wir feiern, dass wir uns begegneten, trauern, dass wir uns verabschieden und feiern die gemeinsam Zeit der gegenseitigen Bereicherung. Der Abend klingtin der Pizzeria Othello direkt am neben dem Geburtshaus von Franz aus. Zufrieden gehe ich zurück in meine Unterkunft und schlafe in Frieden.

Pace e Bene.

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Liebe.

Ruine

Mein Nachtlager schlage ich im Hof der nahegelegenen Burg bzw. Burgruine auf. Das Gebäude selbst ist noch recht gut erhalten und es hat den Anschein, als hätte man vor längerer Zeit umfassende Renovierungspläne verfolgt. Aber nachdem Dach und Decken geflickt wurden, schien entweder Lust oder Geld oder beides ausgegangen zu sein. Ein Hase hoppelt mir entgegen. Ich suche mir eine Ecke, die zumindest einigermaßen frei ist von Ameisen und Glasscherben. Obwohl ich mit den beiden Saarländern bereits zwei Bier getrunken hatte, so öffne ich eine weitere Flasche. Dazu verzehrte ich ein paar Sardellen und Weißbrot und habe bald die nötige Bettschwere.

Ein paar Fledermäuse flattern umher und es entsteht eine gespenstische Stimmung. Noch bevor es stockfinster ist, krabbele ich in meinen Schlafsack und komme sogleich zur Ruhe. Um 1h wache ich das erste Mal auf. Ein Uhu macht auf sich aufmerksam. Es knackst und knarrt aus unterschiedlichen Ecken. Nach einer Weile komme ich wieder in den Schlaf und träume von Festen, die hier vielleicht mal gefeiert wurden. Um 4 Uhr höre ich in regelmäßigen Abständen ein lautes Quieken, das irgendwo aus einem der oberen Stockwerk zu kommen schien. Ich habe zwar gerade keine Todesangst, aber ein mulmiges Gefühl macht sich dennoch breit. Wo ist meine Taschenlampe? Ich finde sie und leuchte das Gelände aus. Ich erkenne nichts, dafür verstummt dieses laute helle Quieken. Kurz darauf höre ich das Knarzen eines rostigen Scharniers, was mein Gefühl nicht verbessert.

Wenn jetzt jemand bei mir wäre der mir die Angst nehmen könnte. Eine der Kräfte die hilft die Angst zu überwinden ist die Liebe. Selbst wenn diese Person den Angriff eines Wolfes oder einer Rotte Wildschweine nicht abwenden könnte, so kann eine geliebte Person immerhin helfen, das Gefühl der Angst zu überwinden. Problematisch dabei ist, dass wenn ich gefunden habe, das mir hilft meine Angst zu überwinden, entsteht eine neue Angst. Nämlich genau das wieder zu verlieren. Das ist schon vertrackt. Selbstliebe oder der Glaube an die Liebe Gottes kann auch helfen, um die Angst zu überwinden. Ich versuche es genau jetzt mit Beidem und komme wieder zur Ruhe.

Aber was ist Liebe überhaupt? Als Gefühl sicherlich dieses aufregende Gefühl, wenn sich im Gehirn ein toxischer Mix aus unterschiedlichsten Hormonen bildet, der die Kontrolle über Sinn und Verstand verlieren lässt. Irrtümlicher Weise wird ja auch von „Liebe machen“ gesprochen, aber das bezieht sich wohl eher auf die körperliche Begierde, die dazu führt, dass die Menschheit nicht ausstirbt. Da kommt es schon mal schnell zu Verwechslungen.

Das menschliche Bedürfnis nach Liebe besteht aus dem tiefen Wunsch heraus für einen anderen Menschen wichtig zu sein. Und eben von diesem auch gehört und gesehen zu werden mit allen seinen Sorgen und Nöten. Die Idee des Glaubens an die Gottesliebe erfüllt vermutlich genau dieses Bedürfnis. Für Gott bin ich wichtig. Er liebt mich so wie ich bin und ich kann ihm alles anvertrauen. Das macht für mich Sinn und gleichzeitig merke ich, dass meine Gedanken dazu noch ein wenig unsortiert sind. Aber ich denke die Richtung stimmt.

Langsam kommt die Morgendämmerung und die Vögel zwitschern. Um 6h30 wache ich wieder auf und packe zusammen. Ich gehe zurück zu der Bar und warte, dass sie um 7h30 öffnet. Es ist angenehm ruhig hier oben. Die Herbergsmutter kommt um 7h28 und öffnet pünktlich. Es wird zwar ein Frühstück serviert, ich entscheide mich jedoch für einen Cappuccino und ein Stück Rührkuchen. Beides zusammen für 4€. Als ich fertig bin, erhalte ich noch meinen Stempel und pilgere los.

Die heutige Etappe ist eher anspruchslos. Es geht überwiegend auf einer Schotterpiste bergab. Dann weiter am Hang entlang ein wenig rauf und runter, über Bachläufe hinweg und letztlich auf die Straße oberhalb des Lago di Valfabbrica mit einer überdimensionierten Staumauer. Auf dem Weg liegt eine kopflose Schlange. Es gibt einen Abzweig nach Coccorano, wo der Weg aufwärts zu einem Pilgerkreuz vorbeigeführt wird. Ich habe heute keine Lust auf unnötige Steigungen und pilgere auf der nahezu unbefahrenen Straße oberhalb des Stausees. Ich komme zügig voran und gelange noch vor 11 Uhr nach Valfabbrica.

In der ersten Bar im Zentrum lasse ich mich nieder und trinke einen Kaffee und ein Wasser. In Valfabbrica ist zwar wenig los, aber das ist genau das wonach mir der Sinn steht. Vor der letzten Etappe nach Assisi noch mal den Tag genießen und frische Kraft schöpfen. Das ist die Idee des heutigen Tages. Natürlich käme ich noch weiter bis Assisi, aber das mag ich für heute nicht. Während ich so sitze und sinniere, kommt die Münchnerin mit einem Italiener vorbei. Sie gesellen sich zu mir und ich bitte den Italiener nochmal im Casa Bettania anzurufen. Als ich dort anrief verstand ich zwar, dass es freie Zimmer gibt, konnte jedoch mangels Telefonverbindung und mangelhafter Italienischkenntnisse die Einzelheiten, also wie das Bett und ich zusammenkommen nicht verstehen. Er kam leider auch nicht weiter.

Es kamen immer mehr und mehr Pilger. Alle die ich in den vergangenen Tagen getroffen hatte kamen hier zusammen. Die Saarbrücker, die Norddeutschen, die Tübinger, die Augsburger und noch einige Italiener und Pilger die ich zwar nicht getroffen hatte, die jedoch mit den anderen bekannt waren. Es ist sehr gesellig.

Langsam mache ich mir jedoch Gedanken über mein Nachtquartier. Ich werde unruhig, vor allem da ich bereits einige Absagen erhalten habe. Von den Saarländern spricht einer fließend italienisch und wir klappern gemeinsam alle Herbergen ab. Bei meiner ersten Wahl dem Casa Bettania kommen wir unter. Drei Nonnen kommen um 15 Uhr angefahren und zeigen uns die Zimmer. Ich freue mich, über die Dusche und ein Mittagsschläfchen. Danach gehe ich zurück zu der Bar und treffe natürlich wieder alle Pilger. Wir verabreden uns für heute Abend zum gemeinsamen Abendessen. Ich bin gespannt.

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Keuschheit.

Landschaft Blick auf Gubbio

Ich wache noch vor meinem Wecker um 7 Uhr auf und erledige die übliche Morgenprozedur. Um 7 Uhr 45 verlasse ich den Convent und hinterlasse meine Spende in einer scheinbar extra für mich aufgestellten Spendenbox. Andere Gäste habe ich zumindest in dem Convent weder gehört noch gesehen. So lief ich nochmal rein nach Gubbio, wo heute das große Spektakel das „Festa dei Ceri“ stattfinden wird. Überall sammeln sich die unterschiedlichen Stadtteilgruppen, um später gegeneinander anzutreten. Allerdings wird, wie in jedem Jahr, das Team des heiligen Sankt Ubaldus, der Schutzpatron der Stadt gewinnen. Mir wird es zu trubelig und auf meinem heutigen Weg mag ich mich mit der Keuschheit einem weiteren Prinzip des Heiligen Franz auseinandersetzten.

Doch zunächst kaufe ich am frühen Sonntagmorgen in einem Lebensmittelladen zwei Äpfel und eine Ecke Weißbrot, um für die heutige Etappe meine Notration zu sichern. Bei Verlassen des Alimentari zieht bereits die erste kostümierte Trommelgruppe an mir vorbei. Ich verlasse die Stadt durch eins der Stadttore und genieße in einer Bar einen doppelten Cappuccino und ein mit Thunfisch und Artischockenherzen belegtes Croissant. Lecker! Und vor allem alles außer gewöhnlich. Danach ziehe ich weiter und besichtige vor dem endgültigen Verlassen der Stadt noch das Kirchlein Santa Maria della Vittorina aus dem 9. Jahrhundert. Davor mache ich noch ein paar Fotos von der Statue wie Franz den Wolf zähmt.

Die weitere Strecke bis Ponte d’Assi verläuft schnurgerade und leicht bergab. Außer auf den laufenden Verkehr brauche ich auf nichts zu Achten. Dabei sind meine Stöcke meine treuen Begleiter. Ich halte sie an meiner Hand. Sie unterstützen mich, wenn es bergauf geht und geben mir Halt wenn‘s mal leichter wird und ich übermütig werde.

Meine Gedanken kreisen, um die von Franziskus vorgeschriebene Keuschheit. Bei diesem Begriff verspüre ich Irritationen, denn ich beziehe die Keuschheit auf komplette sexuelle Enthaltsamkeit. Und wären die Eltern des Heiligen Franz so keusch gewesen, wie es Franziskus wohl gewollt hätte, ja, dann wäre der Franziskus ja erst gar nicht entstanden. Etwas zu verleugnen, was in der Sache unwiderruflich zu mir gehört, halte ich erstmal für problematisch, da ich damit ja auch immer einen Teil von mir verleugne oder ablehne. Ich glaube so komme ich nicht gesund durch mein Leben.

Bei Wikipedia lese ich, dass Keuschheit von dem lateinischen Wort „Conscious“ herrührt, was „bewusst“ bedeutet. Das rückt den Begriff in ein völlig anderes Licht. Ein bewusster Umgang mit Sexualität und generell mit dem Leben halte ich durchaus als sinnvoll. Sexualität eben so bewusst zu gestalten, dass alle Beteiligten davon profitieren, Spaß haben, eben mit Lust und Freude genießen und entspannen können. Damit grenzt sich nach meinem Dafürhalten auch die Keuschheit von der Wollust, einer unwillkürlichen Beliebigkeit ab, die nur das körperliche, nicht aber das geistige Bewusste einbezieht. Keuschheit im Sinne von achtsamer Bewusstheit zu verstehen, empfinde ich als durchaus erstrebenswertes Lebensziel. Wie es die Franziskaner sehen, dessen bin ich mir noch nicht so ganz im Klaren.

Ich komme an ein Bach und überquere ihn auf abenteuerliche Weise auf dicken Steinen. Das weckt meine Erinnerung an die Grundschulzeit, wo ich die Abenteuer eher beim Anstauen eines nahen Bachlaufes sah, als in den Hausaufgaben.

Kurz hinter Pont D‘Assi treffe ich wieder die zwei Augsburger Pilger, die gerade mit einer jungen Pilgerin pausieren. Wir tauschen uns kurz über die heutige Streckenplanung aus. Ab dort begleitet mich die junge Pilgerin. Sie ist sehr offen und freundlich. Wir gehen gemeinsam bis zur Einsiedelei San Pietro in Vigneto. Dort gibt es gegen einen Spende Kaffee, Wasser und eine Übernachtungsmöglichkeit. Es tummeln sich bereits einige Pilger an diesem ruhigen, beschaulichen Ort. Unter anderem die Dänin, die italienische Frauengruppe und der Italiener mit dem ich bereits in Pietralunga das Zimmer teilte. Mir ist es als Tagesziel jedoch noch zu früh und ich gehe noch einige Kilometer mit der jungen Pilgerin. Sie teilte auf dem Weg ihre aktuelle Lebenskrise mit mir und ich war sehr dankbar, dass sie mir dieses Vertrauen schenkte, obwohl wir uns gerade erst begegneten.

Bachüberquerung auf Stelzen

Der Weg führte über einen bequemen Schotterweg zu einem Bachlauf, den ich auf Betonstelzen überqueren konnte. Der Anstieg auf der gegenüberliegenden Hangseite war eher lehmig und steil. ich hatte Mühe mit der jungen Frau Schritt zu halten. Wir gelangen an eine Abzweigung, wo sich unsere Wege trennen. Ihr Ziel ist rechter Hand ein Agriturismo und mein Weg führt nach links weiter in Richtung Valfabbrica. Wir verabschieden uns in der Zuversicht eines Wiedersehens in Assisi. Bestimmt werde ich dort alle Pilger dieses, ersten Streckenabschnittes wiedersehen. Für die meisten wird in Assisi die Pilgertour auch enden.

Mein Weg verläuft bis zur Chiesa di Caprignone recht entspannt. Dann endet der Weg und fällt bis zu einer Bachlauf ab. Dort erfrischen sich gerade die zwei Saarländer die Füße. Die beiden kommen mir bekannt vor, denn ich denke ich hätte sie bereits in Citta di Castalla gesehen. Einer von Beiden braungebrannt und der andere mit einer Haarpracht wie von Jürgen Drews. Ich passiere die Beiden und laufe auf lehmigem Weg bergauf zu einem Brunnen, den der Betreiber des nahegelegenen Bauernhofes wohl zu Gunsten der Pilger eingerichtet hatte.

Ich brauche erstmal eine Pause. Erfrische mich am Brunnen, wasche meine Kappe, die inzwischen einen unübersehbaren Salzrand hat und trinke aus dem Brunnen. Ich verspüre Hunger und greife auf meine Vorräte zurück: ein inzwischen vertrocknetes Weißbrötchen und Pecorino. Die zwei Saarländer kommen ebenfalls zur Erfrischung und wir kurz ins Gespräch. Sie laufen weiter und ich lege mich auf die Bank, um zu ruhen. Ich mag mich erholen und Kräfte sammeln, um weiterzukommen.

Nach meinem typischen 20 Minuten Powernap laufe ich weiter Richtung Biscina, wo ich auf eine Bar hoffe. Die Hoffnung wurde recht schnell von Jamie aus Vancouver zerstört. Er kommt mir entgegen und sagt, dass Biscina ein ganz verlassener Ort sei und die Bar wohl auch am Sonntag Nachmittag geschlossen sei. Aber ich könne dort sicherlich in der alten Burg mein Zelt aufschlagen. Mein Traum von einem gemütlichen Feierabendbier platzt in diesem Moment und ich richte mich auf einen einsamen Abend in meiner Hängematte ein. Als ich in Biscina ankomme, stand die Tür eines Gebäudes offen. Das gibt mir gerade Hoffnung, dass es mit der Versorgung vielleicht doch nicht so eng werden würde wie gedacht. Ich laufe auf die Türe zu und sehe wie die beiden Saarländer gerade mit der Inhaberin um ein Zimmer feilschen. Weiter war eine Theke im Raum und es gibt auch Bier.

Die kommenden zwei Stunden verbringe ich mit den beiden Saarländern, die beide bereits jenseits der 60 waren. Wir tauschen uns über Themen wie Vorruhestand, unsere Trennungen, den Jakobsweg und das wundervoll entspannte Leben in Italien aus. Es ist ein geselliger, lustiger Nachmittag. Von der Hilfsbereitschaft der Herbergsmutter sind wir alle begeistert. Selbst als ich mich von den Beiden verabschiede und noch ein wenig sitzen bleibe, um meine Notizen zu verfassen, spricht sie mich an und gibt mir unaufgefordert das Wifi Kennwort. Ich mag Menschen, die einfach sehen, was ihre Mitmenschen so brauchen, um ihnen unaufdringlich Unterstützung anzubieten.

Ich werde jetzt weiterziehen, um den Abend in keuscher Bewusstheit in meiner Hängematte zu verbringen und Kraft für die mit 15km kurze Etappe nach Valfabbrica zu sammeln. Dabei bin ich dankbar für die Hilfsbereitschaft und die Gemeinschaft der Pilger die alle ihr Päckchen tragen.

Pace e Bene.

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Jammern.

Gubbio Stadtansicht

Heute ist einfach mal Jammern dran. Ich bin der letzte Bewohner des Herbergszimmers. Alle anderen Pilger sind schon zeitig los und ich will einfach noch nicht los. Meine Beinmuskeln sind schlapp wie Pudding und mein Rücken schmerzt wieder einmal im Bereich der Brustwirbelsäule. Meinem kleinen Zeh des rechten Fußes ist es wohl zu ungemütlich im hintersten Winkel meines Wanderstiefels und er beschwert sich mit einer Blase oberhalb des Zehennagels.

Was soll ich sagen, ich habe keine Lust loszugehen. Aber mein innerer Antreiber schreit schon: „Los jetzt! Was bist Du denn für ein elendiger Jammerlappen! Raus jetzt!“ ich rebelliere noch immer. „Komm, jetzt lass mich noch 20 Minuten in Ruhe und dann stehe ich freiwillig auf, ok?“ Deal! Das innere Gezeter hat mich so aufgewühlt, dass ich jetzt sowieso nicht mehr zur Ruhe komme und ich stehe auf. Nach dem üblichen Morgenritual, stiefele ich los und lasse mich erst noch auf ein Kaffee und ein Croissant in der nächstgelegenen Bar nieder. In meinem Pilgerführer lese ich Worte wie „ansteigend, steil, bergauf“ und will am Liebsten in der Bar sitzen bleiben. Da sich die Strecke jedoch nicht alleine läuft, überwinde ich mein Gejammer und die Vorstellung von unüberwindbaren Bergen und ziehe los.

Es geht erst über die Ausfallstraße abwärts, dann zweigt eine Schotterstraße ab, ich durchwate einen Bach bevor es auf der anderen Hangseite in Serpentinen aufwärts geht und schon wieder hörte ich das Gejammer „Menno, ich hab keine Lust auf diese Steigungen!“ Diesmal antwortet eine andere Stimme und sagt „Gell, Du wärst jetzt schon gerne in Gubbio und hättest diese ganze Strapaze schon hinter Dir, oder?“ „Ja, genau!“ antwortete ich und erhöhe mein Tempo, um diese Etappe schnell hinter mich zu bringen.

Heute treffe ich einige Pilger unterwegs. Zunächst zwei Rentner aus Augsburg. Sie entdecken gerade das Pilgern für sich und sind zunächst zwei Wochen bis Assisi unterwegs. Sie planten bereits von daheim die Strecke und buchten die Hotels. Deshalb sind sie mit leichterem Gepäck unterwegs. Durch die Ablenkung unseres Gespräches, bemerke ich gar nicht wie ich mich beim Bergaufsteigen anstrenge. Allerdings bin ich mit den Beiden auch ein wenig langsamer unterwegs. Wir treffen im weiteren Verlauf die Pilgerin vom Bodensee und das Ärztepärchen. Die beiden Augsburger benötigen eine Pause und ich pilgere alleine weiter. Unterwegs überhole ich noch vier italienische Pilgerinnen.

Ebene vor Gubbio

Vor der letzten Steigung entdecke ich die Dänin bereits von weitem an ihrem Strohhut. Sie jammert nicht direkt, sie ist einfach nur müde. Wir wechseln ein paar Worte und ich steige weiter die steile Straße hinauf, denn ich will ja zeitig in Gubbio ankommen.

Als ich auf dem Scheitelpunkt der Steigung ankomme, öffnet sich vor mir ein Blick auf die Ebene von Gubbio. Herrlich!!! Diese Aussicht ist einfach unbeschreiblich. Reihen von Zypressen stehen in unregelmäßigen Abständen und bilden doch irgendwie ein harmonisches Muster, mit Weinbergen, den Wiesen, den Olivenbäumen, alles in unterschiedlichen Schattierungen von grün. Dieses Bild lässt mein Gejammer verstummen.

Loreto – Kirche

Kurz darauf erreiche ich die romanische Kirche von Loreto aus dem 9. Jahrhundert. Auch hier lasse ich es mir nicht nehmen in der Krypta inbrünstig Halleluja zu singen und bin selbst ganz ergriffen von meinem Gesang. Unterhalb der Kirche ist ein Platz mit fantastischem Fernblick, der eigentlich zum Verweilen einlädt. Ich widerstehe und laufe weiter, denn ich mag wirklich vermeiden, dass ich in die Mittagshitze komme.

Ein paar hundert Meter vor mir sehe ich eine Neubausiedlung. Ich wundere mich, denn die Häuser erscheinen mir irgendwie klein. Auch wundert es mich, dass all die kleinen Häuser von einer Mauer umgeben sind. Was ist das bloß? Bis es mir dämmerte, dass es sich hierbei wohl um den örtlichen Friedhof handelt.

Nur wenige Kilometer weiter überquere ich eine Landstraße und entdecke rechter Hand eine Bar. Zugegeben, kann ich dieser Verlockung nicht widerstehen und lasse mich auf ein Getränk nieder. Habe ich schon erwähnt, dass mich gerade diese urigen Bars ansprechen, wo sich überwiegend nur die italienische Bevölkerung aufhält? Die Stimmung verlockt zum Verweilen, aber ich habe ja beschlossen, dass es sinnvoll ist noch nach Gubbio zu kommen.

Kurz darauf sehe ich den 72 jährigen Österreicher, mit dem ich in der vergangenen Nacht das Zimmer geteilt habe, mit einer deutlich jüngeren Frau. Beide haben sich im Schatten zu einem Päuschen niedergelassen und sind gerade im Aufbruch. Wir pilgern gemeinsam die letzten 3 km nach Gubbio, wo der Heilige Franziskus den bösen und gefräßigen Wolf bändigte. Der Österreicher beginnt das Kinderlied mit den Wölfen zu trällern:

Zwei kleine Wölfe geh’n des Nachts im Dunkeln
Man hört den Einen zu dem Andern munkeln
„Warum geh’n wir denn immer nur des Nachts herum?
Man tritt sich an den Wurzeln ja die Pfoten krumm!
Wenn’s nur schon heller wär
Wenn nur der Wald vom Sternen hell erleuchtet wär!“

Badam, badam, badam, badam, badam, badam
Badam, badam, badam, badam, badam, badam

Kalle Klang

Wir lachen, denn das Lied verbindet mich mit der Zeit als meine Kinder im Kindergarten waren.

Allein der erste Anblick von Gubbio verzauberte mich und lässt mein Herz höher schlagen. Es ist ein gut erhaltenes an den Hang gebautes mittelalterliches Städtchen. Ich weiß auch nicht weshalb mich gerade diese mittelalterlichen Städtchen so sehr in Verzücken versetzen. Vielleicht verbindet es mich mit den Erinnerungen an die Klassenfahrt in der neunten Klasse nach Rothenburg ob der Tauber. Das war meine gute Zeit des Aufbruchs, des Unbeschwerten, wo es für uns in der Klasse nur die Grenzen gab, die wir uns selbst setzten, also eigentlich keine. Ja, vielleicht ist es das. Vielleicht aber auch etwas anderes. Auf jeden Fall bin ich im Hier und Jetzt verzaubert vom Anblick Gubbios.

In Gubbio lassen wir uns auf der Piazza 40 Martiri nieder. Der Name des Platz des Platzes erinnert daran, dass die deutsche Wehrmacht 1944 als Vergeltungsmaßnahme für einen Partisanenangriff vierzig Einwohner Gubbios erschossen hatte. Mir stockt der Atem als ich davon erfahre. Von der jungen Frau, die vom Alter her meine Tochter sein könnte, erfahre ich, dass sie Konditormeisterin ist. Ich bin begeistert, denn ich sehe darin einen Job der zwar kein hohes Einkommen verspricht, aber durch geschmackliche Kreativität die Menschen glücklich machen kann. Wir plaudern noch eine Weile auf der Piazza bevor sich unsere Wege trennen.

Es ist 14 Uhr und ich habe mich für den Convento di San Secondo entschieden. Der Convent liegt außerhalb der Stadtmauern und ich pilgere dorthin. Eine Reservierung habe ich nicht. Ich suche den Eingang und klingele. Der Türöffner summt und ich trete ein. Ich betrat einen langen unbeleuchteten Gang und sehe keine Menschenseele. Ich komme mir ein wenig vor wie in der Rocky Horror Picture Show. Im oberen Stockwerk höre ich Schritte und laufe durch das Treppenhaus nach oben. Wieder lange dunkle Gänge die nur von dem Licht erhellt werden, welches die Fenster am anderen Ende des Ganges reinlassen. Ich hörte Schritte in einem anderen Gang und folge wieder meinem Gehör.

Plötzlich stehe ich vor einem älteren kleinen Männchen, das mit längeren Haaren wie Riff Raff ausgesehen hätte. Das Männlein fragt mich was ich denn hier wolle in diesem religiösen Haus. Ich antworte, dass ich ein Platz zur Übernachtung suche. Seine Frage ob ich reserviert hätte konnte ich nur Verneinen. Für weitere Konversation reicht mein Italienisch leider nicht und so gehe ich wieder eine Etage nach unten und lasse mich im Kreuzgang nieder. Ich versuche anzurufen, um nachträglich zu reservieren. Ich höre, dass es kein freies Bett mehr gibt. Das ist erstmal Pech.

So schultere ich meinen Rucksack und will gerade von dannen ziehen, als plötzlich ein jüngerer Herr mit athletischer Figur auftauchte und fragt, wer ich sei und wie ich hier reingekommen sei. Ich versuchte ihm den Prozess in meinem mangelhaften italienisch zu erklären. Also: An der Tür geklingelt, die wurde geöffnet, ich bin reingegangen und suche ein Bett. Er sagte „Uno Momento“ und rief mit seiner Stimme durch die Gänge nach der Hauswirtschafterin. Sie kommt und bestätigt, dass es noch ein freies Bett gäbe. Ich war erleichtert und folgte ihr. Zu meiner Überraschung gab es sogar ein Einzelzimmer mit Dusche und WC. Megakomfortabel! Das Beste was ich bislang als Unterkunft hatte. Ich bekomme sogar einen eigenen Schlüssel und quasi direkten Zugang. Wundervoll. Ich ruhe ein wenig, dusche und mache mich fertig für einen Stadtrundgang.

Hl. Franziskus und der Wolf in Gubbio.

Mit jedem Schritt durch die Stadt wuchs meine Begeisterung für Gubbio. Dabei darf ich natürlich nicht vergessen, dass der heilige Franz hier in Gubbio einen gefährlichen Wolf zähmte in dem er einen Deal mit ihm ausmachte: Die Stadtbewohner füttern den Wolf bis zu dessen Lebensende und als Gegenleistung sollte er aufhören, die Einwohner zu fressen. Der Deal hat geklappt und so lebten alle gemeinsam in Frieden.

Am Palazzo dei Consoli ließ ich mich in einer Bar nieder, beobachte die Szenerie, treffe nahezu alle Pilger, die mir am Tag bereits begegneten und hatte mit allen einen kurzen Wortwechsel. Ich genieße die Gemeinschaft der Pilger untereinander. Diese Gemeinschaft wächst innerhalb kurzer Zeit zu einer Familie zusammen. Es besteht Austausch, wer, wen, wann auf der Strecke gesehen hat. Als Pilger fühle ich mich nicht alleine. In den Straßen herrscht ein geschäftiges Treiben, denn es ist Festa dei Ceri, das Kerzenfest. Die verschiedenen Teams der Stadtteile laufen alle zu ihren Treffpunkten, um anschließend gemeinschaftlich im Rhythmus ihrer Trommeln durch die Stadt zu ziehen.

Und jetzt gehe ich zum Abendessen, denn mein Magen jammert und knurrt nach den gut 27km und 780 Höhenmetern.

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Identität.

Pietralunga

Ich stehe um 7 Uhr auf und ärgere mich über mich selbst, denn meine Pilgerkappe ist weg. Vermutlich vergaß ich sie gestern Abend im Café am Rathausplatz. Als ich aufbrach war mein Fokus wohl woanders und ich ließ sie wohl einfach liegen. Im nächsten Moment bin ich traurig, denn seit 2010 war sie auf meinen Pilgerreisen dabei und ist Teil meiner Identität als Pilger.

Nachdem ich alles verstaut hatte, pilgere ich zuerst zu der Bar, wo meine Kappe geblieben sein könnte. Auf dem Weg dorthin versorge ich mich in einer Markthalle mit einer Tagesdosis Äpfel. Danach gehe ich zur Bar am Rathausplatz, ordere einen Cappuccino und ein Croissant und frage nach meiner Kappe. Es ist wie ein Wunder! Sie wurde gefunden. Die Kellnerin fischte sie in einem Nebenzimmer aus einem Müllsack, in dem jedoch offensichtlich keine Abfälle, sondern ausschließlich meine Kappe war. Ich war glücklich, denn nun kann ich beschwingt in den Tag starten. Außerdem verschafft es mir auch wieder einmal Vertrauen in meine Mitmenschen, die eben sorgsam mit Fundsachen umgehen.

Das Tagesziel ist Pietralunga und der Reiseführer beschreibt die Strecke als eher langweilig. Dementsprechend ein guter Tag, um den Fokus mal nach innen zu richten. Gemäß der Wegebeschreibung folgte ich dem Weg aus der Stadt. Dabei habe ich meinen Fokus wohl ein wenig zu früh nach innen gerichtet und folge erstmal einer anderen als der angegebenen Ausfallstraße. Die frohe Botschaft dabei: Ich habe es noch früh genug gemerkt. Also suche ich den Weg zur Route. Ich laufe mit stetiger Steigung weiter auswärts, dann durch Olivenhaine und Weinberge. Immer der wenig befahrenen Straße entlang. Der Weg ist prima ausgeschildert, obwohl mir ein paar Kilometerangaben eher fragwürdig erscheinen. Mal laufe ich 20 Minuten in flottem Tempo und der nächste Wegweiser zeigt bloß eine um 300m geringere Entfernung an als der vorherige. Dann laufe ich 5 Minuten und auf einmal soll ich 2 km gut gemacht haben. Sehr merkwürdig. Aber ich komme voran.

Die Temperaturen sind noch angenehm und die ersten 10 km bewältige ich bereits in zwei Stunden. Noch war ausreichend Kraft in meinen Beinen. Die Stöcke sind gerade bergauf eine willkommene Unterstützung, denn sie entlasten meine Beinmuskulatur. Nach 15 km komme ich an einen Brunnen und erfrische mich. Eine längere Pause will ich zu diese Zeitpunkt noch nicht machen. Ich laufe auf der Straße mit leicht welligen Höhenprofil und erfreue mich immer wieder an den herrlichen Fernblicken über die umbrische Hügellandschaft und auch zurück auf die Berge die ich bereits hinter mir ließ.

Zur Zeit meiner Jugend gab es unterschiedliche Gruppierungen, da gab es unter anderem die Rocker, die Teds, die Punks, die Popper und die Alternativen Ökos. Die Rocker hörten Hard Rock Musik, fuhren Motorräder, trugen Motorradlederjacken mit übergezogener Kutte (Jeansjacke mit abgeschnittenen Ärmeln und einem Logo auf dem Rücken), hatten oft lange Haare und waren auch in die ein oder andere Schlägerei verwickelt. Die Teds, hörten Rockabilly oder Rock’n’Roll Musik, trugen Kleidung aus den 50er Jahren, hatten eine coole Tolle, so wie Elvis Presley und tanzten gerne zu ihrer Musik. Die Punks waren die „No Future“-Bewegung, hörten Punk-Rock, hatten oft bunt gefärbte, hochgestellte Haare, teilweise mit Irokesenschnitt, Nieten und trugen Springerstiefel. Die Popper waren meist aus eher gut situiertem Elternhaus, fuhren Motor-Roller und trugen College-Schuhe. Die Ökos waren gegen Atomkraft und gegen die Startbahn 18 West am Frankfurter Flughafen, sie trugen ausgemusterte Bundeswehr Parkas, ausgewaschene Jeans und hatten tendenziell längere Haare.

Wenn man sich mit einer dieser Gruppen identifizierte, kleidete man sich entsprechend, um dazuzugehören. Für jeden Außenstehenden war dann auch recht schnell klar, welche Gesinnung bzw. Einstellung jemand hatte, wenn er sich entsprechend kleidete. Ich war irgendwo zwischen den Teds und den Punks, denn ich mochte einerseits Rock’n’Roll Musik und gleichzeitig sah ich auf dem Gymnasium nur wenig Zukunft für mich. Denn mich interessierte eher das zwischenmenschliche innerhalb des Klassenverbandes als der Lehrstoff.

Heute bin ich als Pilger, als Sinnsuchender, daran zu erkennen, dass ich einen Rucksack, Wanderstiefel und Wanderstöcke trage. Ich bin unrasiert und führe ein religiöses Zeichen mit. Hier auf dem Franziskusweg das „Tau“, auf dem Jakobsweg eine Muschel.

Aber das sind ja erstmal die äußeren Erkennungsmerkmale. Wenn ich im Alltag rasiert bin und einen Anzug trage, dann würde vermutlich niemand auf die Idee kommen, dass ich als Pilger auch gerne mal draußen in der Natur unter freiem Himmel übernachte. Was mich zu der Frage bringt woher erkennen andere „Wer ich bin“ und was macht mich eigentlich aus? Abgesehen von meiner Kleidung kann jeder erkennen, dass ich aufgrund heller Hautfarbe habe, der kaukasischen Rasse zugehörig bin. Dass ich aufgrund meines Bartwuchses und meiner kurzen Haare, männlichen Geschlechts bin und somit auch Sohn, ist heutzutage ja nicht mehr selbstverständlich, in meinem Fall jedoch völlig zutreffen. Auch wenn ich nicht alles akzeptiere, was mir seit Geburt alles mitgegeben wurde, mein Geschlecht schon.

Alles andere was zu mir gehört, dass ich Vater von drei Töchtern bin, welches Wissen, welche Fähigkeiten und Talente ich habe, welche Instrumente ich spielen kann, welche Sprachen ich beherrsche, welche Glaubenssätze mich begleiten, woran ich glaube, sprich wer ich bin, lässt sich nur im Gespräch mit mir herausfinden. Genau so wie ich andere nur über ein Gespräch für mich erschließen kann. Ebenso wie es der heilige Franz gemacht hat: Über das Sichtbare das Unsichtbare erschließen.

An einem Friedhof treffe ich ein holländisches Pärchen, das gerade im Schatten der Friedhofsmauer Pause macht. Sie liefen die Strecke ab Florenz bis La Verna in 2019 und wollten im darauffolgenden Jahr weiterlaufen. Sie sagt „doch dann bekamen wir Covid“. Ich dachte bei mir „Stimmt“ irgendwie bekamen wir alle Covid. Die einen erkrankten daran, manche starben und der Rest wurde mit Einschränkungen im täglichen Leben belastet. Pieve dei Saddi, die Landkirche der Heiligen machte einen recht unscheinbaren Eindruck. Ich lief darauf zu, um meine Wasservorräte aufzufüllen und zu pausieren. Freundlich wurde ich von einem Herren begrüßt und überrascht als ich um die Ecke bog. Dort waren eine kroatische Pilgergruppe, eine Italienische und eine deutsche Pilgergruppe. Außerdem traf ich dort das Medizinerpärchen und die Lehrerin.

Es war wuselig. Alle Getränke und sogar Mittagessen gab es hier auf Spendenbasis. An diesem friedvollen Ort hätte ich auch übernachten können. Ich besichtigte die Kirche, die so ansprechend schlicht war und die Krypta aus dem 5. Jahrhundert. Dort konnte ich es mir nicht nehmen lassen ein paar Mal Halleluja zu singen. Die Akustik war phänomenal. So langsam verließen die einzelnen Gruppen den Ort und es wurde ruhig. Ich nutze diese Ruhe zu einem Mittagsschlaf und verabschiedete mich gegen 14 Uhr. Es waren noch gut 10 km bis Pietralunga und ich dachte das sei ein Klacks. Weit gefehlt, denn nach 5 km bergab stieg es nochmal kräftig an. Auf dem Weg ins Tal traf ich wieder die Dänin, die bereits zu diesem Zeitpunkt sehr erschöpft war.

Als es zum Anstieg kam, trennten sich unsere Wege, da ich in meinem Tempo den Berg hinauflaufen wollte und sie in ihrem. Nach etwas 2km hörte ich von hinten einen LKW kommen, der qualmend den Berg hinauffuhr. Ich drehe mich um und sah auf dem Beifahrersitz die Dänin, die den LKW wohl kurzer Hand stoppte und sich so die Mühen dieses Anstiegs ersparte. Mit letzten Kräften laufe ich den Anstieg hinauf, muss jedoch alle paar Meter stehen bleiben, da doch nur noch Pudding in den Muskeln war. Ich bin glücklich als ich auf der Anhöhe Pietralunga sehe. Der Richtungspfeil deutet auf einen Feldweg und verspricht das Ziel sei in 1,2km erreicht. Allerdings führt der Weg nicht auf der gleichen Höhenlinie nach Pietralunga sondern erst noch in ein Tal, so dass ich mich nun wirklich mit aller letzter Kraft ins Stadtzentrum schleppe.

Refugio Pietralunga

Ich setze mich erstmal vor die Kirche, um mich zu erholen. Noch hatte ich keine Klarheit, wo das Rifugio ist, wo ich die Nacht verbringen möchte. Google Maps gibt mir einen Hinweis und als ich auf das Gebäude zulaufe, sehe ich schon die Dänin im Garten sitzen. Ein Italiener erklärt mir wie das alles funktioniert, ich beziehe mein Bett im Mehrbettzimmer und ruhe mich von den Strapazen erstmal aus. Dann folgt das übliche Programm. Duschen, Wäsche waschen und um 18:45 den Pilgerstempel abholen und die Spende abgeben.

Da bleibt noch ein wenig Zeit zum Erkunden. Pietralunga begeistert mich. Es ist ein schönes mittelalterliches Städtchen mit lebendigen Bars, einem Supermarkt, einem Eisenwarenladen und Hotels. Hier fühle ich mich sofort wohl.

Und jetzt gehe ich erstmal zum Abendessen, um ein paar der verlorengegangene Kalorien wieder auffüllen, die auf der heutigen Strecke von 32 km über 1.000 Höhenmeter sicherlich verloren habe.

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Franziskusststatue

Als ich um 7 Uhr aufstehe bin ich der einzige Pilger im Zimmer. Der Italiener und die Dänin sind wohl bereits in tiefster Nacht los. Ich beginne den Tag mit der üblichen Zeremonie. Das heißt waschen, Zähne putzen, Sonnencreme auftragen, Rucksack packen und checken, dass ich hier im Raum kein Teil von mir hinterlasse. Als ich die Foresteria Santa Maria Dei Servi verlasse, scheine ich der letzte Gast zu sein. Ich mache mich auf ins wenige Meter entfernt gelegene Stadtzentrum und kaufe Obst im Alimentari. Anschließend gibt es einen Kaffee und ein Schinken-Käse-Panini im „Happy Cafe“ nebenan.

Ich laufe los und verlasse Sansepulcro. Der Weg verläuft erst an ein paar ansehnlichen und mit Videoüberwachung gesicherten Vorstadtvillen vorbei, führt dann kontinuierlich ansteigend durch Olivenhaine und Weinberge. Dabei genieße ich den atemberaubenden Blick über die Tiber-Ebene. Die Strecke ist gut markiert und ich komme nur an wenigen Stellen ins Stocken. Weiter führt der Weg im Wald an einem Bachlauf kontinuierlich aufwärts. Ich genieße den Weg mit jedem Schritt. Da kann ich mal den Bach überqueren, dann sind da kleine Wasserfälle mit ausgewaschenen Becken und teilweise muss ich auf dem Pfad ein wenig balancieren, da er so nah am Abhang verläuft. Der Pfad ist teils lehmig, teils felsig.

Auf der gegenüberliegenden Hangseite sehe ich wie etwas Dunkles den Hang hinauf eilt. Etwa wieder ein Wildschwein? Oha! Bei dem Gedanken, mir käme jetzt auf diesem Pfad eine Herde Wildschweine entgegen, wird mir mulmig. Ich wäre in den Tieren in der Geländegängigkeit deutlich unterlegen. Ich klappere präventiv eifrig mit meinen Stöcken. Vielleicht hat es gewirkt, vielleicht waren es überhaupt keine Wildschweine. Ich war wieder beruhigt.

Eremo Montecasale – Kreuzgang

Bereits um 10 Uhr erreiche ich Montecasale und mache einen Klosterrundgang. Eine Schulklasse erhält gerade eine Führung durch den Padre. Der heilige Franz hat wohl öfter hier übernachtet. Genau auf die Stelle wo sein Bett war ist man recht stolz und ehrt sie gebührend. In einer Nische werden Bücher und Anhänger gegen Spende verkauft. Ich suche ein kleines Tau aus, welches ich fortan um den Hals trage.

Hilflos verlasse ich das Kloster, denn ich bin unsicher in welcher Richtung ich der Weg nach Citta di Castello verläuft. Mit der Beschreibung in dem Reiseführer kann ich nicht viel anfangen. In der Ferne erkenne ich einen grünen Pfeil dem ich vertraue und weiter aufwärts folge.

Ich freue mich total, wie ich mich innerhalb dieser Woche körperlich entwickelt habe. Der Aufstieg erscheint mir nicht mehr so anstrengend wie die Tage zuvor. Auch meine Rückenschmerzen haben nachgelassen. Während ich so pilgere, frage ich mich, was ich eigentlich mal hinterlassen will, wenn ich diesem Planeten verlasse. Ich denke es wird Zeit, dass ich mich damit auseinandersetze, denn meine Verweilzeit wird wohl nur noch 20 bis 30 Jahre betragen. Wenn ich mir überlege wie rasch die vergangenen 10 Jahre vergangen sind, ist das eine übersichtliche Zeitdauer. Meine Ersparnisse für alle Notfälle können sich meine Kinder untereinander aufteilen, aber was hinterlasse ich sonst außer den Überresten meines Körpers? Was möchte ich, dass man auf meinen Grabstein meißelt?

Der heilige Franz lebte vor 800 Jahren und seine Geschichten, seine Regeln sind seitdem lebendig. Alleine der Bruch mit seinem Vater, wo er sich auf einem Markplatz nackt auszog, um seinem leiblichen Vater alles zurückzugeben, was er von ihm hatte .

Der Gedanke bringt mich zu meinem Vater, was hat er mir hinterlassen? Zum einen sind da viele Erinnerungen, wie er mir Schwimmen beibrachte und auch Erinnerungen an meine Brüder aus erster Ehe meines Vaters. Die haben sich nicht mit einem radikalen Bruch von meinem Vater losgesagt, sonder eher langsam aus dem Leben geschlichen. Sie meldeten sich nicht mehr und reagierten auch nicht mehr auf Anrufe. Das betrübt mich. Denn es gab eine Zeit, wo ich viel Spaß mit meinen Brüdern hatte und auch alleine etwas mit ihnen unternahm. Der Mangel an Klarheit betrübt mich. Vielleicht lag es an dem Verhältnis zu ihrer „Bonus“-Mutter, die immer wieder kommentierte was die leibliche „Bauch“-Mutter wohl alles falsch machte. Apropo Bonus: Irgendwie kann ich mir nicht vorstellen, dass meine Brüder meine Mutter wirklich als „Bonus“ erlebten, obwohl sie auch meinen Brüdern gegenüber fürsorglich war.

Mein Vater war ein Mann mit Humor, der für die Familie sorgte und alles dafür gab, dass es seiner Familie an nichts fehlt. Von ihm lernte ich Schwimmen, Fahrrad fahren und zudem war er mein zuverlässiger Berater in vielen Lebensfragen. Auch habe ich von meinem Vater gelernt, dass ein Gedicht immer vier Komponenten enthalten sollte. Nämlich etwas lyrisches, etwas romantisches, etwas logischen und etwas tragisches. Als Beispiel nutzte er gerne folgenden Vers:

Zwei Mädchen jung und unberührt (das ist lyrisch.),
wandelten durch einen Rosengarten (das ist romantisch),
die eine wurde gleich verführt (das ist logisch),
die andere musste warten (das ist tragisch).

(Horst Schmitt *1928 +2007)


Ich finde es noch immer amüsant und gleichzeitig bin ich verunsichert, ob es in die heutige Zeit passt in der die Rollen von Mann und Frau anders gesehen werden als noch vor 60 Jahren. Und das ist auch gut so, denn ich wünsche mir eine Gleichstellung der Geschlechter in allen Bereichen. Warum sollten nicht auch einmal junge und unberührte Männer romantisch durch einen Rosengarten wandeln und verführt werden?

Den heutigen Höhepunkt habe ich überschritten und die Toskana verlassen. Ich bin in Umbrien und die kommenden 15 Kilometer sollte es überwiegend bergab gehen, so dass ich meinen Gedanken wieder freien Lauf lassen kann. Ich hoffe ich kann meinen Kindern ebenfalls die Erinnerung an gemeinsame Erlebnisse erhalten wie die Vater-Kind-Freizeiten, das Adventsbasteln, die gemeinsame Tour durch Frankreich oder die gemeinsame Tour durch England. Vielleicht kann ich für meine Töchter auch ein Rollenmodell dafür sein, was sie von einem Mann erwarten können. Und welche Eigenschaften sie auf keinen Fall bei ihrem Partner haben wollen. Ich merke gerade, dass ich mich bei diesem Thema noch weiter austoben könnte und verzichte zugunsten meiner Reiseerlebnisse.

Es geht über eine Piste den Hügel hinunter. Ein LKW kommt mir entgegen und wirbelt trotz achtsamer Fahrweise jede Menge Staub auf. Auf meiner Haut entsteht eine Kruste aus Sonnencreme, Schweiß und Staub. Celalba ist das erste umbrische Dorf, dass ich erreiche. Nach 20km wurde es auch langsam Zeit, denn ich hoffe schon lange auf eine Bank, auf der ich meine Pause machen kann. Hinter der Dorfkirche werde ich fündig und verspeise erstmal mein Obst und mache danach ein Nickerchen.

Am Himmel stehen mindestens drei Sonnen und die Temperaturen sind bei 28 Grad. Ich mache mich wieder auf den Weg und fülle meinen Wassersack am örtlichen Brunnen auf. Es sind ja nur noch 7 Kilometer, denke ich und laufe durch die fruchtbare Ebene. Links und rechts des Weges ist überwiegend Ackerland. Die Bauern bringen Salat-Setzlinge aus. Ich laufe weiter und weiter. Meine Konzentration lässt nach und ich beginne Wegweiser zu übersehen und verlaufe mich. Ich navigiere auf meinem Smartphone meinen eigenen Weg und folge dem Verlauf der Straße. Wechselweise weiche ich den Autos oder sie mir aus. Ich bin einfach mit meinen Kräften am Ende und die 7 Kilometer sind längst gelaufen. In Titta ist eine Bar geöffnet und ich gönne mir ein alkoholfreies Bier und eine Cola, die ich erst zusammen- und dann in mich hineinschütte.

Ich breche direkt wieder auf, denn ich kann es kaum erwarten anzukommen und den Rucksack abzuschultern. Um 17:30 bin ich bei dem Monastero delle Klarisse. Genau 15 Minuten vor Pfortenschluss und erhalte gegen eine Spende von 20€ einen Pilgerstempel und ein Bett im Zweibettzimmer.

Citta di Castello - Rathaus
Citta di Castello – Rathaus

Ich freue mich erstmal über eine ausgiebige Dusche bevor ich mich zu einer Altstadterkundung von Citta di Castello aufmache. Die Highlights sind der Dom und der Rathausvorplatz. An letzterem setze ich mich in eine Bar, um das quirlige Treiben zu genießen. Am Nachbartisch war erst eine Gruppe älterer Männer, die mit einem Bier den Feierabend einläuteten. Später wechselte die Gesellschafft und eine Mädelsgruppe feierte lautstark irgendetwas mit Sekt.

Gerade entdeckte ich die Lehrerin und rufe ihr zu. Sie gesellt sich kurz zu mir und wir tauschen unsere Erlebnisse der vergangenen Tage aus. Seit La Verna hatte ich sie nicht mehr gesehen. Wir verabschieden uns und ich finde noch eine Pizzeria, um meinen Hunger zu stillen. Dabei bin ich dankbar für meinen Gesundheitszustand und meine Fitness. Ohne beides könnte ich diese Pilgerreise nicht genießen.

Was ich einmal hinterlassen werde weiß ich trotz der Strecke von 32 km mit 1.100 Höhenmetern immer noch nicht. Vielleicht rede ich mal mit meinen Kindern, wenn ich von meiner Pilgerreise zurück bin. La Verna, die umliegende Natur und der Weg haben auf alle Fälle bei mir ein Gefühl von Leichtigkeit hinterlassen.